Nach wochenlangem Stillstand scheint es in der Ukraine voranzugehen. Beobachter vermelden, die ukrainische Gegenoffensive nehme langsam Fahrt auf. Militärexperte Gustav Gressel ist mit seiner Einschätzung der Lage zurückhaltender – und hat eine große Sorge.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Viele Wochen hieß es: Die ukrainische Gegenoffensive kommt kaum voran. Von eingefrorenen Frontlinien war zu lesen, ebenso von der Enttäuschung über die ausbleibende Wucht der Gegenangriffe.

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Etwa acht Wochen nach Beginn der Operation schlagen Beobachter nun andere Töne an: "Wenn man nicht vorankommt, dann muss man etwas ändern", sagte der Militärexperte Michael Karl im "ZDF"-Interview. Das hätten die ukrainischen Streitkräfte getan und ihre Taktik nach den ersten Misserfolgen umgestellt.

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Minenfelder erschweren Vormarsch

Man setze nun darauf, mit kleinen Gruppen die russischen Verteidigungslinien Stück für Stück aufzuweichen – etwa bei Orichiw und Welyka Nowosilka. Die Ukrainer hätten vor allem im Umgang mit Minenfeldern Erfahrung gesammelt, man sprenge sich zum Beispiel Gassen frei.

Nach ukrainischen Angaben sind Moskaus Truppen derzeit nicht auf dem Vormarsch, sondern haben sich in den von ihnen besetzten Gebieten verschanzt und diese vermint. Im staatlichen Fernsehen sagte der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow: "Die Zahl der Minen auf dem Gebiet, das unsere Truppen zurückerobert haben, ist völlig verrückt. Im Durchschnitt gibt es drei, vier, fünf Minen pro Quadratmeter." Man rücke deshalb nicht so schnell vor, wie erhofft.

Ukrainische Kräfte ausgewechselt

Der ukrainische Präsident Selenskyj meldete sich Donnerstagabend, 3. August, auf seinem Telegram-Kanal zu Wort: "Die Besatzer versuchen mit aller Kraft, unsere Jungs aufzuhalten. Die Angriffe sind sehr brutal."

Auch Militärexperte Gustav Gressel beobachtet das Kriegsgeschehen aufmerksam. "Letzte Woche haben die Ukrainer auf der Tokmak-Achse ihre Kräfte ausgewechselt", weiß er. Einige Einheiten des neunten ukrainischen Korps seien zurückgenommen worden – wahrscheinlich, weil die Verluste so hoch seien, dass die Einheiten nicht mehr geschlossen einsatzfähig sind.

Noch immer viele Minenfelder

"Sie sind abgelöst worden durch Einheiten des 10. Korps, die jetzt weiter angreifen. Sie kommen etwas schneller voran", sagt auch Gressel. Es bestehe aber weiterhin das Problem, dass es enorm viele Minenfelder gebe, die von Hand geräumt werden müssten. "Die Koordination funktioniert nun aber scheinbar besser. Das 10. Korps war länger in Bereitschaft und hat daher eine längere Ausbildungs- und Trainingszeit gehabt. Das kann sich bezahlt machen", kommentiert er.

Die Ukrainer hätten aber weitere Kräfte in den Norden verlegen müssen, auf die sogenannte Kremina-Achse. "Die Russen haben dort in den letzten Wochen ziemlich stark angegriffen. Dass dort Schützenpanzer vom Typ CV9040 verloren gegangen sind, zeigt, dass Heeresreserven eingesetzt wurden, weil die Einbrüche zu groß waren", analysiert der Experte.

Worüber die Ukrainer spekulieren

Kiew habe mittlerweile die meisten Einbrüche wieder beseitigt und die Geländegewinne der Russen egalisiert. "Die Russen drücken aber noch mit relativ starken Kräften. Solange sie dies tun, binden sie die Reserven der Ukrainer, die nicht in die Offensive im Süden gehen", merkt Gressel an.

Die Ukrainer spekulierten schon lange darüber, wie stark die russischen Kräfte im Luhansk-Oblast wirklich seien. "Das ist vermutlich auch ein Grund für den vorsichtigen Mittel-Einsatz im Süden, weil man nicht weiß, was da alles noch kommt", sagt Gressel.

Im Zeitplan zurück

Auch wenn die Gegenoffensive etwas an Fahrt gewinnt: "Die Ukrainer sind im Zeitplan zurück. Wenn es nach ihnen ginge, hätten sie gerne größere Fortschritte gemacht", ist sich der Experte sicher. Große Durchbrüche zeichneten sich nicht ab.

"Wenn die Ukrainer die Kleinstadt Tokmak als ihr Schwergewicht verstehen, dann ist der Weg durch die erste Hauptlinie nur der Weg zur zweiten Hauptlinie und dann gibt es noch eine dritte Hauptlinie. Das wird ein zäher und langsamer Kampf", erklärt Gressel.

Positiv wirke es sich allerdings aus, dass man bei einigen russischen Einheiten bereits Verschleißerscheinungen beobachten könne. "Die Russen haben taktisch recht gut verteidigt, allerdings sehr aggressiv", weiß Gressel. Das habe viele Kräfte gekostet und zehre an den Soldaten. Die Frage bleibe weiterhin: "Wer hat den längeren Atem? Wer hält die Abnutzungsschlacht länger durch?"

Experte hat eine Befürchtung

"Meine Befürchtung: Wenn die Ukrainer es diesen Herbst oder Spätherbst nicht schaffen sollten, größere Geländegewinne zu machen, sodass sie im Süden eine kürzere Front haben als vorher – stoßen sie in einem langen Abnutzungskrieg gegen Russland an Kräftegrenzen", warnt Gressel.

Die Russen hätten sich darauf vorbereitet, einen jahrelangen Krieg zu führen. "Moskau kann den Krieg noch mindestens zwei, drei Jahre so weiterführen", sagt er. Putin habe die Industrie auf Kriegsproduktion umgestellt, Russland produziere viele gepanzerte Fahrzeuge. "Zwar nicht genug, um die Verluste auszugleichen, aber ungefähr zehnmal so viel wie die Europäer."

Europa zögert weiterhin

Durch veränderte Wehrgesetze könnten die Russen außerdem schleichend neue Kräfte mobilisieren und einziehen, welche sie für das weitere Nähren der Offensive brauchen. "Damit können sie den Krieg sehr lange führen", sagt der Experte. Währenddessen würden die Europäer der Ukraine quasi nur das schenken, was man nicht mehr brauche oder 10 Prozent des eigenen Gerätes nicht übersteige. "Dann kommen die eigenen Streitkräfte quasi an die Strauchelgrenze und vor der bleibt man immer stehen."

Es sei derzeit kein Ansatz zu sehen, Fahrzeuge, Artilleriesysteme, Kampf- oder Schützenpanzer in größeren Mengen zu produzieren, damit Gerät frei wird, dass die Ukrainer erhält. "Das sieht Putin natürlich auch und dementsprechend rechnet er sich aus, den Krieg gewinnen zu können", analysiert Gressel; wenn es so langsam weitergehe mit der Rüstungshilfe aus dem Westen, werde das "valide" bleiben.

Zur Person: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen:

  • zdf.de: Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
  • Telegram-Profil von Wolodymyr Selenskyj, Stand: 4. August 2023
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