- Zhenya und Olga Bernatska sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet.
- Hier fürchten sie um die Sicherheit ihrer Familienangehörigen, die in Kiew geblieben sind.
- Jeder Tag beginnt mit dem bangen Blick aufs Handy und der Frage: Sind alle noch am Leben?
Es ist etwa 4:30 Uhr in der Nacht, als Zhenya Bernatska in ihrer Wohnung im Kiewer Westen von einem lauten Knall geweckt wird. Zunächst schläft die 20-Jährige wieder ein. Aber als sich die Geräusche zehn Minuten später wiederholen, checkt sie die Nachrichten auf ihrem Smartphone und liest, dass Kiew und die ostukrainische Stadt Charkiw bombardiert werden. Bernatska weckt ihre Eltern und ruft ihnen panisch zu: "Der Krieg hat begonnen."
Hektisch packt die Studentin eine Reisetasche mit ihren Sachen, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. Hosen, Pullover, ein dicker Mantel, ein bisschen was zu essen. Ihre Eltern, die 81 Jahre alte Oma, viele weitere Verwandte und Yorkshire Terrier Ljutik bleiben in der ukrainischen Hauptstadt zurück. Schon gegen 5:00 Uhr steigt sie ins Auto zu einer Freundin, deren Schwester und Verlobten. Ihr Ziel: der damals noch sichere Westen des Landes.
Die Bilder der verstopften Ausfallstraßen Kiews waren in den Nachrichten rund um den Globus zu sehen. Und Zhenya Bernatska erlebt hautnah, wie die europäische Nachkriegsordnung vom russischen Präsidenten
"Wir waren in diesen Autos gefangen. Wenn wir angegriffen worden wären, hätten wir keine Chance gehabt, irgendwohin zu fliehen", erinnert sie sich immer noch mit Schrecken an den 24. Februar 2022. Der Tag, an dem Russland die Ukraine überfällt. Der Tag, an dem sich ihr Leben und das ihrer Familie für immer verändert.
Zehn Stunden an der Grenze warten
Zwei Tage schläft Bernatska nach der Flucht aus Kiew in einem Dorf in der Nähe von Lwiw bei Fremden, bevor sie sich mit ihren Begleitern Richtung Slowakei aufmacht. "Das war die schlimmste Zeit. Ich war in relativer Sicherheit, aber meine Eltern waren noch in Kiew. Ich konnte nichts essen, nicht schlafen. Ich habe ständig auf mein Telefon geschaut, geheult und mir das schlimmste ausgemalt, wenn ich Bilder von zerstörten Häusern gesehen habe. Es war furchtbar."
Die letzten paar Kilometer gehen sie zu Fuß, zehn Stunden stehen sie über Nacht in der Schlange bei vier Grad über Null, Helfer versorgen sie mit heißer Suppe in Tassen.
Zwei Wochen später sitzt die junge Frau in einer Wohnung im Leipziger Stadtteil Gohlis neben ihrer Mutter Olga und serviert Tee mit Minze. Ihr altes Leben ist vorbei. Das Studium unterbrochen, die Treffen mit Freunden in Cafés nur noch eine schöne Erinnerung. Zumindest kann sie ihre Arbeit für einen Kiewer Stadtrat von Deutschland aus in begrenztem Maße fortsetzen. Das gibt ein wenig Halt. Auch die Mutter arbeitet von Leipzig aus im Homeoffice weiter.
Olga Bernatska hatte zehn Tage nach Kriegsbeginn ebenfalls die Flucht gewagt. Weil die Bombardierungen immer schlimmer wurden. Und weil die 55-Jährige für ihre Tochter da sein wollte.
In einem der übervollen Evakuierungszüge fährt sie 15 Stunden lang von Kiew nach Lwiw. "Frauen, Kinder, Babys, Hunde, Katzen, Papageien – alles quer durcheinander", sagt sie. Wenigstens sind die Wege zur Toilette nicht versperrt. Später geht es mit dem Bus weiter Richtung Polen. 17 Stunden für 70 Kilometer. Ihre alte Freundin Tanja, bei der sie nun in Leipzig untergekommen ist, holt sie - wie schon ihre Tochter zuvor – von der Grenze ab.
Der Vater bleibt im Land
Der Vater, 58 Jahre alt, darf das Land dagegen nicht verlassen. So wie alle wehrfähigen ukrainischen Männer im Alter zwischen 18 und 60. "Er will sowieso nicht raus", sagt Olga Bernatska.
Aufgrund seiner Gesundheit zieht er nicht in den Kampf. Er bewacht stattdessen die Wohnung vor Plünderern, kümmert sich um die in der Nähe wohnende Oma und den Hund und versorgt als Freiwilliger ältere Menschen mit Essen und Medikamenten.
Nach außen sei dem Vater keine Angst anzumerken, berichten Mutter und Tochter. Das gibt auch ihnen etwas Trost. Für die Großmutter, Jahrgang 1941, die als kleines Kind den Zweiten Weltkrieg erlebte, sind die neuerlichen Kämpfe und die Trennung von der Familie besonders schwer zu ertragen. Sie verbringt die Nächte in einem bombensicheren Keller unter ihrem Wohnhaus.
Die Einschläge kommen näher. Vor einigen Tagen wurden die Antonow-Flugzeugwerke in der Nähe der elterlichen Wohnung von Raketen getroffen. "Mein Vater hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass er nicht weiß, ob wir uns jemals wieder sehen", sagt Zhenya. Ihr Blick schweift dabei traurig von der Zimmerwand zur Decke. Es sind Sätze, von denen man dachte, dass sie in Europa nach zwei überstandenen Weltkriegen nie wieder fallen würden. Doch der Ukraine-Krieg hat so manche alte Gewissheit erschüttert und mitten in Europa unbeschreibliches Leid verursacht.
"Ich fühle mich wie ein Verräter"
Nun gibt es neue Routinen. Die Tage beginnen seit Kriegsausbruch immer gleich: mit dem bangen Blick aufs Handy. "Das ist das Schlimmste", sagt Olga. "Nicht zu wissen, ob es der Familie gut geht, ob sie noch leben." Ihr fällt es sehr schwer, weit weg von der Heimat zu sein und nicht helfen zu können.
Ihre Tochter empfindet sogar Scham gegenüber allen, die im Land geblieben sind. "Ich fühle mich wie ein Verräter. Ich sitze hier im Sicheren, während die Leute in der Ukraine sterben und hungern." Und gegen die russischen Invasoren Widerstand üben.
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Hier kann sie keine Molotowcocktails füllen, keine Tarnnetze weben oder Parolen auf Plakate schreiben. Dafür ist sie sicher. Die Entscheidung, zu fliehen, habe sie instinktiv gefällt. "Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich habe nur noch funktioniert." Seit dem Kriegsbeginn raucht sie wieder mehr.
Untätig bleibt Zhenya Bernatska auch von Deutschland aus nicht. Sie engagiert sich beim Verein "Leipzig hilft", der Sachspenden für die Ukraine organisiert und zur Grenze transportiert. Genau wie Tanja, die Freundin, bei der sie gerade leben. Bei "Leipzig hilft" war auch eine junge Frau aus Russland dabei, die sich für den Überfall auf die Ukraine sehr schämt.
Zusammen haben sie Kartons für ukrainische Kinder gepackt. Das gibt ihr Hoffnung, dass die Versöhnung möglich sein wird. Besonders schwer sind Tage, an denen Zhenya wenig zu tun hat, an denen Ablenkung fehlt. Dann kreisen die Gedanken nur um den Krieg und ihre Verwandten. Wird sie die Heimat jemals wiedersehen? Wird die Ukraine dann noch ein freies demokratisches Land sein? "Einen Tag habe ich nur geheult", sagt sie.
Auch Olga schießen während des Interviews immer wieder Tränen in die Augen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie einmal ihr Land verlassen muss. Sie ist sicher: "Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Wunden verheilt sein werden." Kontakte zu Verwandten und Bekannten in Russland hat sie abgebrochen, nachdem diese ihr am Telefon die Kreml-Propaganda über die "militärische Sonderoperation", wie der Überfall auf das Nachbarland in Russland genannt werden muss, vortrugen. "Der Krieg wird irgendwann zu Ende gehen", sagt Olga. "Die Frage ist nur, zu welchem Preis und wie viele Menschen noch sterben werden."
Wieder bekommt sie feuchte Augen. Sie will so bald wie möglich nach Kiew zu Mann und Mutter zurückkehren und sich in ihrer Heimat nützlich machen – wenn es die Sicherheitslage erlaubt. Entschieden sagt sie: "Ich will nach Hause." Oder zumindest vorübergehend nach Osteuropa ziehen, um näher an der Heimat zu sein. Vielleicht in die Slowakei oder nach Ungarn. Tochter Zhenya bleibt fürs Erste in Leipzig. Mit das Schlimmste am Krieg sei die Ungewissheit. "Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben in ein paar Monaten aussehen wird."
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