Die Gerüchteküche brodelt: Wird Putin erneut versuchen, die ukrainische Großstadt Charkiw einzunehmen? Täglich werden die Einwohner mit Raketen und sogar Gleitbomben beschossen, in der Region gibt es bereits Zwangsevakuierungen. Und in Russland selbst spricht man von einer möglichen weiteren Mobilisierungswelle.

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Regelmäßig hört der ukrainische Geheimdienst bei Telefonaten mit – auch oder vielleicht vor allem in Russland. Und er veröffentlicht jene, die interessant sein könnten. Da wäre etwa dieses eine Gespräch, bei dem eine Anwohnerin aus Belgorod von ihrer Angst erzählt. Und von dem, was wohl für die ukrainische Großstadt Charkiw geplant ist.

"Nun, Vika, Sie haben gesagt, dass es im April-Mai ein Chaos geben wird", diese Information habe die Frau von ansässigen Militärs bekommen. Zudem habe sie gelesen, dass es eine Sommeroffensive auf Charkiw aus der Region Sumy geben wird, diese liegt nordwestlich der Großstadt. "Sie werden die Stadt also einkreisen und nicht direkt durchstoßen."

Putin will "Sicherheitszone" aus Charkiw-Region machen

Seit Monaten brodelt die Gerüchteküche auf sämtlichen Telegram-Kanälen: Das nächste Ziel Russlands werde Charkiw sein, heißt es bei den meisten. Aber was ist wirklich dran an dem Gerede?

Russlands Präsident Wladimir Putin will aus der Region inklusive der Stadt Charkiw eine Pufferzone machen. Das berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass. Er schließe nicht aus, eine gewisse "Sanitätszone" auf ukrainischen Gebieten zu schaffen, sagte er mit Blick auf Vorschläge, die Region Charkiw zu annektieren, um ukrainische Angriffe auf die russische Grenzregion auszuschließen. "Eine Sicherheitszone zu schaffen, die sehr schwer zu überwinden sein wird, mit den Mitteln, die der Feind einsetzt, vor allem natürlich aus dem Ausland", führte Putin aus.

Offizielle Stimmen der Ukraine und aus dem Westen halten dagegen. Eine große Offensive werde kommen, das sei klar – sie könnte sogar bereits im Gange sein, berichten verschiedene Quellen, darunter auch der US-Thinktank "Institute for the Study of War" (ISW). Doch für eine Großoffensive auf die Stadt Charkiw gebe es nicht genügend Ressourcen, das sei alles Desinformation und Teil der psychologischen Kriegsführung Russlands, heißt es von Seiten ukrainischer Behörden.

Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht die Stadt durch ihre errichteten Verteidigungsanlagen gesichert. Er sagte in einem Video auf Telegram aber auch: "Das Ziel Russlands ist ganz offensichtlich – sie wollen alles tun, um die Menschen aus Charkiw und der Region zu vertreiben."

Laut dem britischen Geheimdienst zieht Russland derzeit wieder mehr Soldaten ein. Seit 1. April wird wieder mobilisiert – rund 150.000 Soldaten im Alter von 18 bis 30 Jahren sollen eingezogen werden. Auf das gesamte Jahr hochgerechnet will Moskau wohl 400.000 Männer rekrutieren.

Russischer Beamter: Einnahme von Charkiw "nur durch Einkesselung möglich"

Von russischen Quellen hört man andere Töne. Das 2022 gegründete Investigativ-Portal "Verstka" spricht davon, dass bald 300.000 Soldaten eingezogen werden sollen, und zitiert in einem Artikel mehrere russische Offizielle, darunter einen "hochrangigen Mitarbeiter des russischen Verteidigungsministeriums". Dieser soll gesagt haben: "Als Nächstes steht Charkiw auf dem Plan – mit der Einnahme der Stadt. Und das ist nur durch eine Einkesselung möglich." Man wolle allerdings kein zweites Mariupol schaffen, sondern zeigen, dass Russen "wissen, wie man auf zivilisierte Weise kämpft", soll der Beamte gesagt haben.

In der südöstlich gelegenen ukrainischen Stadt Mariupol, die Russland seit 2022 besetzt, hat es etliche Berichte über Verbrechen an Zivilistinnen und Zivilisten gegeben. Satellitenbildaufnahmen zeigen offenbar auch großflächig angelegte Massengräber, die Stadt wurde quasi samt ihren Bürgern dem Erdboden gleichgemacht.

Ein Offizier der Luftlandetruppen soll dem Portal "Verstka" zudem gesagt haben, man sei bereits auf dem Weg nach Charkiw. Und: "Sie reden hier seit Langem von einer Offensive auf Charkiw."

Russland setzt sogar Gleitbomben ein

Unterdessen geht der tägliche Beschuss der Stadt und der gesamten Region weiter. Fast täglich werden Tote gemeldet, Russland setzt sogar bereits überarbeitete Gleitbomben ein, die von Flugzeugen aus sicherer Entfernung von der Front abgeworfen werden.

In 47 Ortschaften haben die ukrainischen Behörden am Donnerstag eine Zwangsevakuierung für Familien mit Kindern angeordnet. 25.000 Menschen sind laut Angaben des Gouverneurs der Region, Oleh Synjehubow, bereits aus dem Grenzgebiet evakuiert worden. Durch ein staatliches Unterstützungsprogramm sollen die Bewohner des Gebiets zudem eine Entschädigung für den Erwerb neuer Wohnungen erhalten.

Eine Analyse des ISW zeigt, dass russische Truppen derzeit eine Offensive südlich von Charkiw ins Rollen bringen. Laut den Analysten des US-Thinktanks zeigt die Art und Weise, wie diese Offensive vonstattengehen soll, dass die russische Kommandozentrale dazugelernt hat. "Ihre Planung und anfängliche Durchführung markieren eine bemerkenswerte Wende im russischen Ansatz auf operativer Ebene", heißt es dort weiter.

Angriff auf vier Achsen

Demnach greifen russische Truppen auf der Linie Kupjansk bis nach Kreminna auf vier Achsen an: nordöstlich von Kupjansk, nordwestlich und südwestlich von Swatowe und westlich von Kreminna. Die Truppen unterstützten einander und führten ihre Operationen nicht mehr gezielt auf einen gewissen Punkt durch, sondern parallel, flächenweise. Geht dieses Format auf, könnte Russland Charkiw wieder erneut von Süden aus abkapseln. Nördlich und östlich der zweitgrößten Stadt der Ukraine liegt unlängst die russische Grenze – so wäre Charkiw fast wieder eingekesselt.

Bleibt abzuwarten, ob diese Strategie Früchte tragen wird. Noch hat Putin die benötigte Truppenstärke nicht, um tatsächlich durch die Verteidigungslinien der Ukraine hindurchzustechen. Doch allein durch den permanenten Beschuss zwingt der russische Machthaber erneut Tausende Menschen zur Flucht und könnte allein dadurch der Ukraine zusetzen.

Verwendete Quellen

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