Anfang der Woche haben russische Kämpfer innerhalb Russlands militärische Attacken gestartet. Wie weitreichend waren diese wirklich und wie sehr sind diese Gruppen mit der Ukraine verbunden? Experten geben hierauf Antworten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In der russischen Region Belgorod kam es vor einigen Tagen zu Kämpfen. Dort haben russische Partisanen russische Polizeibehörden und die russische Armee angegriffen. Wie bedeutend waren diese Angriffe?

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"Die mediale Bedeutung dieser Attacken übersteigt bei weitem die militärische Relevanz", sagt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Mehrere hundert Leute besetzten eineinhalb Tage einige Dörfer und eine kleine Stadt. Es ist auch nicht die erste Attacke auf russisches Gebiet."

Ähnlich sieht dies Nico Lange, ein Experte für Sicherheitsfragen, der sich seit langem mit Russland und der Ukraine beschäftigt. Die breite mediale Darstellung sei sogar eines der Ziele dieser Aktion gewesen. "Es ging darum, Russland zu blamieren, Verwirrung zu verbreiten und Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist mit vergleichsweise geringem Aufwand gelungen," urteilt Lange.

Die "Legion Freiheit für Russland" gründete sich einem Bericht von Radio Free Europe zufolge im März 2022, kurz nach Wladimir Putins Invasion der Ukraine. Sie soll aus russischen Soldaten bestehen, die nicht für die Ziele des Kremls in der Ukraine kämpfen wollten und deshalb auf die Seite der Ukrainer überliefen. Sie verstünden sich als "freie Bürger", die für ein "neues Russland" ohne Putin kämpfen wollten.

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Aktuell soll es bis zu 4.000 Kämpfer geben. Ein Vertreter der "Legion", Ilja Wladimirowitsch Ponomarjow, forderte von der russischen Bevölkerung, diesen Krieg zu stoppen, indem sie Putins Regime beenden. "Es ist nicht fair, wenn Ukrainer für unsere Freiheit ihr Blut vergießen.", erklärte er über den Twitterkanal der Hackergruppe Anonymous.

Partisanengruppen gründeten sich nach Russlands Angriff auf die Ukraine

Auch das "Russische Freiwilligenkorps" wurde infolge des russischen Einmarsches in die Ukraine gegründet. Nach Angaben des Russland-Experten Michael Colborne sind einige äußerst rechte Putin-Gegner schon vor zehn Jahren in die Ukraine geflohen. Demnach handelt es sich bei ihrem Anführer um den russischen Neonazi Denis Kapustin, der sich auch Denis Nikitin nennt. Dies erklärte Colborne im Podcast des Nachrichtenmagazins Meduza.

Anfang der 2000er Jahre ging Kasputin demnach mit seiner Familie nach Köln, offenbar im Rahmen eines Visa-Programms für Menschen mit jüdischem Hintergrund. Dort wurde er Teil der Fußball-Hooligan-Szene und organisierte unter anderem rechtsextreme Konzerte. Der deutsche Staat hat Kasputin im Jahr 2019 ausgewiesen, wie NTV berichtet. Seitdem darf er den Schengen-Raum nicht mehr betreten, lebte aber offenbar bereits zuvor in der Ukraine.

Im "Memorandum des Russischen Freiwilligenkorps" beschreiben die Kämpfer ihre Ziele selbst als "rechtskonservative politische Ansichten und traditionalistische Überzeugungen". Doch der Russlandexperte Alexander Dubowy charakterisiert die Gruppe in der "Berliner Zeitung" stattdessen als "eine Organisation mit offen neonazistischer Ideologie".

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Die "Legion Freiheit für Russland" äußere sich hingegen kaum öffentlich politisch. Diese Gruppe achte zwar die Grenzen Russlands nach 1991, doch auch innerhalb dieser Gruppe verträten "nicht unwesentliche Teile ihrer Mitglieder offen rechtsradikale Positionen", so Alexander Dubowy.

Bereits seit 2014 existieren russische Gruppen, die gegen die russische Führung kämpfen

Dass einzelne wenige russische Partisanen gegen den russischen Staat kämpfen, sei jedoch keine neue Entwicklung, erklärt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das gab es schon seit 2014, möglicherweise waren es mehrere Hundert von ihnen."

Neu sei an der aktuellen Entwicklung vielmehr, wie Ukraine über deren Aktionen kommuniziere. Die Ukraine habe bei ihrer Kommunikation genauso gehandelt wie Russland bei den Angriffen auf den Donbas ab 2014.

"Russland sagte damals: Wir sind da nicht vor Ort, die prorussischen Separatisten in der Ukraine handeln auf eigene Rechnung. Wenn sie gefragt wurde, woher die Separatisten russische Waffen und Uniformen hätten, sagte die russische Regierung: Die kann jeder in jedem Militärgeschäft einfach kaufen", erläutert Rácz.

Inwiefern handelten beide Gruppen tatsächlich im Sinne der ukrainischen militärischen Führung? Die Ukraine gebe zwar an, mit diesen Gruppen nichts zu tun zu haben, doch das sei wenig glaubwürdig, urteilt Rácz. "Wie realistisch ist es, dass in einem Land im Krieg gegen Russland eine bewaffnete Einheit bestehend aus Russen einfach selbständig agieren kann?", fragt der Russlandexperte.

"Wären sie nicht unter Beobachtung des ukrainischen Militärs, würden sie schon längst nicht mehr existieren." Immerhin sei die "Legion Freiheit für Russland" eindeutig Mitglied der "Internationalen Legion" - allen freiwilligen ausländischen Kämpfern auf Seiten der Ukraine - die dem ukrainischen Verteidigungsministerium unterstellt ist, erklärt András Rácz.

Größerer Widerstand innerhalb Russlands ist kaum zu erwarten

Die weiteren Chancen auf möglichen Widerstand von Russen innerhalb Russlands stehen nicht besonders gut, glaubt der Sicherheitsexperte Nico Lange. "Im totalitären System Putins, wo derzeit hohe Funktionäre oder Geschäftsleute reihenweise umgebracht werden oder unter mysteriösen Umständen ums Leben kommen und wo ein Vater für ein gemaltes Anti-Kriegsbild seiner Tochter zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, kann man jeden verstehen, der erstmal den Kopf unten behält." Dennoch gebe es hinter den Kulissen seit einiger Zeit durchaus radikale Gruppen, die etwa Züge entgleisen ließen und Brandanschläge verüben würden, sagt Lange.

András Rácz sieht die Lage ähnlich. In Russland gebe es "wahrscheinlich viele tausend Menschen, die nicht einverstanden sind mit Putins Agieren". Wichtiger sei es, dass es auch im Osten Russlands solche Sabotageakte gebe. Diese nötigten die russische Führung dazu, Ressourcen dahin zu verlagern - und sie woanders abzuziehen. "Ihre wenigen Aktionen sind dennoch politisch relevant," so Rácz, "weil die Ukraine darauf verweisen kann, dass es in Russland eine ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg gibt."

Über die Experten: Nico Lange ist Senior Fellow bei der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Er arbeitete davor mehrere Jahre in Russland und der Ukraine.
András Rácz, ist Senior Fellow am Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Verwendete Quellen:

  • berliner-zeitung.de: Belgorod: Russisches Freiwilligenkorps und seine Neonazi-Wurzeln
  • n-tv.de: Wer ist der russische Neonazi Denis Kapustin?
  • meduza.io: The Russian Volunteer Corps and its neo-Nazi leader
  • Twitter-Profil von Anonymus Germany (Stand: 26. Mai 2023)
  • newsweek.com: Putin's Deserters Poised to Fight Against Him on Front Lines
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