- Seit Montag beschießt Russland die ukrainische Hauptstadt Kiew und viele weitere Städte aus der Luft.
- Es ist die erste größere Angriffsserie seit den ersten Kriegswochen. Der Hauptgrund: Rache für die Zerstörung der Krim-Brücke.
- Wie der Westen unterstützt, worauf es nun ankommt und wie es wohl weitergehen wird.
Seit Montag wird die ukrainische Hauptstadt Kiew von schweren Explosionen erschüttert. Es gab Raketenangriffe in der Innenstadt, teilweise wurde kritische Infrastruktur zerstört und es kam zu Stromausfällen. Die ukrainischen Behörden meldeten auch in Saporischja, Lwiw und der Umgebung von Kiew Angriffe. Es handelt sich damit um die erste größere russische Angriffsserie seit den ersten Kriegswochen.
Die Raketenangriffe deuten Beobachter als Symbol der Rache und als Zeichen dafür, dass Kreml-Chef Putin seit der ukrainischen Gegenoffensive seitens radikaler Nationalisten unter immensem Druck steht.
Akt der Rache
Nach der Zerstörung der Krim-Brücke, für die der ukrainische Geheimdienst verantwortlich sein soll, forderten die Hardliner explizit Angriffe auf Kiew. Putin begründete die Explosionen in der Ukraine mit einem "Kampf gegen den Terrorismus". Die Krim-Brücke, die das russische Festland mit dem annektierten Gebiet verbindet, gilt als patriotisches Bauwerk und nationales Symbol.
Angesichts der Luftangriffe benötigt die Ukraine vor allem Systeme zur Flugabwehr. Washington sicherte noch am Montag die Lieferung von modernen Flugabwehrsystemen zu, acht sogenannte "National Advanced Surface-to-Air Missile Systems" (Nasams) gehören zu dem Hilfspaket. Das System kann gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen, Cruise-Missiles oder Drohnen eingesetzt werden. Zur amerikanischen Unterstützung zählen auch Radare zur Luftüberwachung und Tausende Boden-Luft-Raketen des Typs Stinger.
Wie der Westen unterstützt
Berlin soll am Dienstag das deutsche Flugabwehrsystem vom Typ Iris-T SLM geliefert haben. Dessen Lieferung war allerdings bereits im Mai zugesichert worden. 2023 sollen drei weitere Systeme folgen. Es verfügt über einen 360-Grad-Radar, mit dem mehrere Luftangriffe gleichzeitig abgewehrt werden können. 30 Flugabwehr-Panzer des Typs Gepard hat die Ukraine bereits erhalten.
Auch jetzt zeigt sich wieder ein Problem, das seit Kriegsbeginn besteht: Der Westen, vor allem Europa, verfügt nur über ein beschränktes Waffenarsenal. Moderne Flugabwehrsysteme sind nicht in ausreichender Anzahl vorhanden, um rasch geliefert werden zu können. Sie müssen erst produziert werden. Entsprechend kritisierte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski vor wenigen Wochen, die vorhandenen Systeme seien nicht annähernd genug, um zivile Infrastruktur wie Schulen, Spitäler, Universitäten oder Wohnhäuser zu schützen.
"Wir brauchen keine Gespräche, wir brauchen Flugabwehr, Mehrfachraketenwerfer und Geschosse mit größerer Reichweite", forderte der Präsidentenberater Michailo Podoljak nach den Luftangriffen. Denn Russland stellt derzeit unter Beweis, dass es den Himmel über der Ukraine noch immer unsicher machen kann.
Widerstand der Bevölkerung brechen
"Seit die ukrainische Offensive im Oktober Fahrt aufgenommen hatte, gab es Gerüchte, man plane in Russland die Wiederaufnahme des strategischen Luftkrieges, also die systematische Zerstörung von beispielsweise Rüstungsbetrieben, Energiebetrieben und wichtiger Verkehrsinfrastruktur", sagt Militärexperte Gustav Gressel.
Nach der Sprengung der Krim-Brücke schien die Entscheidung gefallen. "Das wird den Winter über so weitergehen, um die Wirtschaft zu schwächen und die Resilienz der Bevölkerung zu unterlaufen", ist sich der Experte sicher. Dabei lehre die Geschichte eigentlich, dass Angriffe gegen zivile Infrastruktur nicht zu einer Ermattung des Verteidigungswillens führen würden. Die Zerstörungen in den kulturellen Zentren, etwa von Statuen, würden einzig aus Rache und für das heimische Publikum unternommen.
Experte: "Luftkrieg wird weitergehen"
"Der Luftkrieg wird weitergehen", meint Gressel. Der Militärexperte schätzt jedoch, dass die Knappheit an Präzisionsabstandswaffen wie etwa ballistischen Raketen auf russischer Seite dazu führen wird, dass sich der Luftkrieg auf Drohnen iranischer Bauart verlagern wird. Nach Informationen des britischen Geheimdienstes setzt Russland bereits seit August unbemannte Flugkörper vom Typ Shahed ein.
"Russland hat große Probleme mit der Produktion von Präzisionswaffen, weil viele westliche Teile verbaut sind", erinnert Gressel. Die jetzt verwendeten Raketen seien vermutlich aus einer strategischen Reserve herausgenommen worden. "Man schießt sich nie komplett leer, sondern behält immer eine Reserve zurück – etwa für eine Konfrontation mit der Nato oder einen anderen Krieg an Russlands Grenzen", erklärt Gressel.
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Waffenbestände sinken immer weiter
Dennoch seien Waffen eine endliche Ressource. "So große Bestände gibt es in Russland nicht mehr", ist sich Gressel sicher. Als "Notlösung" sei es denkbar, dass Russland Waffen, die eigentlich als Träger für Nuklearwaffen vorgesehen seien, für den konventionellen Gebrauch umbaut. "Gerne macht Putin das aber auch nicht", meint Gressel.
Die ukrainische Luftverteidigung sei relativ gut – etwa die Hälfte der Luftangriffe könne abgefangen werden. "Die Planbarkeit der Angriffskampagne ist für Russland deshalb vage. Man kann nicht damit rechnen, dass jede Rakete ihr Ziel findet", analysiert Gressel.
Das deutsche System Iris-T SLM helfe der Ukraine in dieser Situation sehr. Mit einem System könne aber nur ein Schutzobjekt geschützt werden. "Es gibt im Westen zu wenig Produktion und zu wenig vorhandene Fliegerabwehrsysteme, um der Ukraine rasch zu helfen", betont Gressel. In dieser Hinsicht habe Russland die Achillesferse getroffen. Auch das Munitionsproblem der Ukraine bestehe fort. "Es gibt aber noch immer Potenzial in Europa, das man ausschöpfen kann", betont Gressel.
Iranische Drohnen als Lösung?
Dass die iranischen Drohnen die Schwächen der russischen Luft-Waffe ausgleichen können, glaubt Gressel nicht. Auch der britische Geheimdienst urteilt, dass den Russen angesichts der ukrainischen Flugabwehr von russischen Kampfflugzeugen weiterhin eine Waffe für Angriffe aus der Luft fehlt, die eine zuverlässige, nachhaltige und präzise Schlagfähigkeit bietet.
"Die Drohnen sind relativ langsam, träge und schlecht zu manövrieren", sagt der Experte. Deshalb seien sie einfacher abzufangen. Man könne das Funksignal der Drohnen verfolgen und so die Steuerstationen ausfindig machen. "Diese müssen relativ nah an der Ukraine positioniert sein", meint Gressel.
Um sie angreifen zu können, bräuchten die Ukrainer allerdings Raketensysteme mit großen Reichweiten. Nicht zuletzt deshalb pochen sie auf die Lieferung amerikanischer Systeme mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern. Gressel erinnert aber: "Die politische Dimension wäre eine andere, wenn die Ukraine mit westlichen Waffen Steuerstationen außerhalb ihrer Landesgrenzen angreifen würde". Er ist sich sicher: "Das wird ein sehr ungemütlicher Winter".
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