• Während die Weltgemeinschaft schon seit Wochen den Start der russischen Großoffensive im Osten der Ukraine erwartete, irritiert Putin mit einem Angriff weit abseits der Front.
  • Wie russische und ukrainische Stellen bestätigen, ist die Großstadt Lwiw im Westen des Landes bombardiert worden. Mehrere Zivilisten starben dabei.
  • Militärexperte Gustav Gressel erklärt, welches Kalkül dahintersteckt.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. des zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Bereits seit Wochen wurde die russische Großoffensive im Osten der Ukraine erwartet, die laut ukrainischen Angaben inzwischen begonnen hat. Doch während die Weltgemeinschaft schon auf ostukrainische Städte wie Donezk, Luhansk, Mariupol und Kramatorsk blickte, lässt Putin die Stadt Lwiw im Westen des Landes angreifen.

Mehrere Zivilisten sterben dabei. Laut Bürgermeister Andrij Sadowyj soll dazu auch ein Kind zählen. Russland hat den Raketenbeschuss der Großstadt, die weit von der Front entfernt liegt, bereits bestätigt.

Waffendepot mit aus dem Westen gelieferten Waffen wurde offenbar zerstört

Wie der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Montagabend (18. April) in Moskau mitteilte, wurde ein Zentrum für die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte getroffen. Ein großes Waffendepot mit aus dem Westen gelieferten Waffen soll dabei zerstört worden sein.

Konaschenkow gab an, "große Chargen ausländischer Waffen, die in den vergangenen sechs Tagen von den USA und europäischen Staaten in die Ukraine geliefert wurden", seien zerstört worden. Laut ukrainischen Angaben sind bei den jetzigen Angriffen Raketen in der Nähe von Bahnobjekten explodiert, auch ein Reifenservice soll bombardiert worden sein.

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Neben Lwiw hat Russlands Armee im Krieg gegen die Ukraine am Ostermontag auch Kiew, Mariupol und Dnipro bombardiert. © ProSiebenSat.1

Lwiw galt lange als sicher

Lange galt Lwiw, Unesco-Weltkulturerbe und nur 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, als sicherer Ort in der Ukraine. Seit Kriegsbeginn wurde die Stadt nur selten bombardiert, weshalb sie sich zum Zufluchtsort für Geflohene entwickelt hat. Die USA hatten bereits Mitte Februar ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw verlegt.

Welches Kalkül steckt dahinter, kurz vor der Großoffensive im Osten nun Lwiw anzugreifen? Militärexperte Gustav Gressel sagt: "Die russischen Angriffe im Westen zielen auf die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Armee und auf die Versorgungslinien ab."

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Russland hat die Nachschublinien der Ukraine im Visier

Bereits in der Vergangenheit hätten die Russen in Lwiw Ziele aus der Nachschubkette der ukrainischen Armee angegriffen: Munitionshersteller, Treibstofflager, Reparaturwerkstätten für Autos und Flugzeuge. "Die Angriffe zielen vor allem auf Nachschublinien aus Polen für westliches Gerät ab", erklärt Gressel gegenüber unserer Redaktion.

Lwiw gilt als wichtiger Umschlagpunkt für Waffenlieferungen aus dem Westen. Diese Lieferungen hatte der Kreml als legitimes Angriffsziel genannt und bereits damit gedroht, sie verstärkt zu bekämpfen.

"Normalerweise sind die Russen sehr langsam, was nachrichtendienstliche Aufklärung angeht", sagt Gressel. Oft vergingen Wochen, bis Orte angegriffen würden, an denen westliche Waffenlieferung umgeschlagen wurden.

"Die Ukrainer ändern ihre Routen ständig und schauen nach neuen Versteckmöglichkeiten – es handelt sich um ein Katz-und-Maus-Spiel", sagt der Experte. Die schlechte nachrichtendienstliche Aufklärung, der lange Zeitverzug und die mangelnde Möglichkeit, die westukrainischen Transportlinien in Echtzeit zu überwachen, ließen die meisten russischen Angriffe aber ins Leere schlagen.

"Das russische Kalkül lautet nun: Bevor man in einen langen Abnutzungskrieg geht, will man das ukrainische Vermögen, die eigenen Reserven zu erhalten und gegebenenfalls neu zu bilden, so gut es geht unterbinden", analysiert Gressel.

Zusammen mit dem ständigen Zufügen von Verlusten im Osten wollten die Russen damit das militärische Potenzial der Ukraine langsam austrocknen. "Die jetzige Offensive im Osten unterscheidet sich grundlegend von dem, was wir bislang gesehen haben", sagt der Experte.

Ukraine: Neue Phase des Krieges

In der ersten Phase des Krieges hätten die Russen versucht, möglichst schnell zu operieren, schnell Gelände einzunehmen und Städte einzukesseln. "Dabei hat man offene Flanken riskiert und lange Versorgungswege in Kauf genommen. Das ist den Russen auf den Kopf gefallen", erinnert er.

Die Ukrainer seien effektiver geführt, besser motiviert, würden Flanken schneller erkennen und gezielt angreifen. "Diese ganzen Risiken versuchen die Russen nun zu minimieren, indem sie mit ihren Kräften stärker konzentriert angreifen", erklärt Gressel. In der jetzigen Phase laute die Taktik: siegen durch langsames Erdrücken des Feindes.

Wird nun der Donbass eingekesselt?

Dass dabei eine komplette Einkesselung des Donbass gelingt, hält der Experte allerdings für unwahrscheinlich. "Auf der Landkarte sieht das verführerisch aus, aber die Russen müssten dafür mindestens 200 Kilometer aus dem Norden und dem Süden kontrollieren", so Gressel.

Solche "Panzerkeile" seien sehr anfällig für Angriffe aus der Flanke – die die Ukrainer beherrschen. "Um eine so große Flanke zu sichern, wären die russischen Kräfte zu schnell aufgezehrt", sagt er. Das wiederum widerspreche dem Kalkül, nun Verluste zu minimieren und Kräfte zu bündeln. Gressel rechnet deshalb mit kleineren Kesseln im Gebiet des Donbass, beispielsweise um Sjewjerodonezk.

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Weiterer Kriegsverlauf noch offen

Wie erfolgreich die Russen mit ihrer jetzigen Taktik sind und ob sich damit der Krieg gewinnen lässt, ist nach Ansicht von Gressel noch völlig offen. "Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es Spekulation, ob Putin mit einem Abnutzungskrieg erfolgreich sein kann", sagt Gressel.

Dafür müsste man erst das Ende einzelner Operationen abwarten, um dann zu beurteilen, wie viele Kräfte gebraucht wurden, wie viele Verluste es gab und wie viel Gelände dafür gewonnen wurde. "Es kann auch sein, dass die russischen Verluste dann immer noch zu hoch sind und Russland sich aus dem Krieg zurückziehen muss", sagt Gressel.

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Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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