Unverantwortliche Entscheidungen und sogar Gefährdung von Soldatenleben: Gegen Bohdan Schewtschuk, den Kommandeur der 59. Brigade der ukrainischen Armee, werden schwere Anschuldigungen erhoben. Wie tief reicht die Krise? Der ukrainische Generalstab ist alarmiert, sogar Oberbefehlshaber Oleksander Syrskyj schaltet sich ein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In der Ukraine sorgt derzeit die 59. mechanisierte Brigade für Schlagzeilen. "Egoismus, blinder Karrierismus, Entfernung aller unliebsamen Kommandeure, Unterdrückung der Moral und Demütigung des Personals" - so lauten die Vorwürfe gegen den Kommandeur Bohdan Schewtschuk. Sie stammen von der Militärsanitäterin Kateryina Polischtschuk, einer jungen Soldatin.

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Aufgrund der schwerwiegenden Vorwürfe und erheblicher Verluste hat der ukrainische Generalstab eine umfassende Ermittlungskommission entsandt, um die Vorfälle zu untersuchen. Offenbar hat sogar Oberbefehlshaber Oleksander Syrskyj die Ermittlungen persönlich befehligt.

Olexander Syrskyj, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte
Generaloberst Olexander Syrskyj, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, hat sich persönlich in die Ermittlungen eingeschaltet. © picture alliance/dpa/ZUMA/Ukrainisches Präsidentialamt

Im Zentrum der Kontroversen steht der Kommandeur der 59. Brigade, Bohdan Schewtschuk. Er leitet sie seit April 2024 und wird von verschiedenen Seiten heftig kritisiert. Der Militärjournalist Jurij Butusow etwa bezeichnet die Ernennung Schewtschuks als Fehlentscheidung. Im Messengerdienst Telegram schreibt er, Schewtschuk sei zu jung und unerfahren, um eine Brigade effektiv zu führen.

Der Journalist kritisiert den Führungsstil Schewtschuks, der alle Entscheidungen selbst treffe, einschließlich der Festlegung von Schießzielen und des Einsatzes von Truppen, was für eine so große Front inakzeptabel sei.

Der Armeeführung wirft Butusow vor, gern Offiziere zu befördern, die zwar gut berichten können, aber nicht über die notwendige Führungserfahrung verfügen. "Dies führt zu unüberlegten Befehlen und gefährdet das Leben der Untergebenen", schreibt er. "Die Lage ist kritisch, der Feind hat die Oberhand, also sollten wir zumindest das verbessern, was wir schnell ändern können - die Qualität der Führung, der Ordnung und der Organisation unserer Streitkräfte", heißt es in Butusows Telegram-Post.

Sanitäterin erhebt schwere Vorwürfe

Auch die Militärsanitäterin Kateryna Polischtschuk erhebt Vorwürfe gegen Schewtschuk. Sie hat eigenen Angaben zufolge ein Jahr lang eng mit der Brigade zusammengearbeitet, ihrer Einschätzung nach hat der Kommandeur gravierende Fehler gemacht: "Aufgrund der unmenschlichen und unprofessionellen Haltung Schewtschuks bin ich gezwungen, nicht mehr mit dieser berühmten Brigade zusammenzuarbeiten, aber nicht jeder hat die Möglichkeit, sich kriminellen Befehlen zu widersetzen, die einzig und allein darauf abzielen, zusätzliche Sterne für diesen Mann zu generieren", erklärt sie in einem offenen Brief, den sie auf mehreren Social-Media-Plattformen veröffentlichte. Ihr zufolge sei Schewtschuk nicht aufgrund seiner Kompetenz, sondern wegen "familiärer Beziehungen" zum Kommandeur ernannt worden.

Die Sanitäterin war 2022 als Verteidigerin von Asowstal in russischer Kriegsgefangenschaft. Öffentlich bekannt wurde sie, nachdem ein Video von ihr veröffentlicht wurde, in dem sie im Asowstal-Bunker sang. Jetzt berichtet sie von Schewtschuk als Führungsperson, die egoistisch und karriereorientiert sei, was zu einer hohen Anzahl von Todesfällen und einer Demoralisierung der Truppe geführt habe. Sie fordert eine gründliche Untersuchung und richtet ihren Brief direkt an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Ein Offizier der 59. Brigade, Serhiy Tsehotsky, weist die Vorwürfe der Sanitäterin zurück. Gegenüber dem Nachrichtenportal Hromadske sagte er: "Es ist völlig falsch, Schlussfolgerungen zu ziehen und die Arbeit eines Kommandanten zu bewerten. Man braucht eine gewisse Ausbildung, Wissen und so weiter. Und eine Bewertung abzugeben, nur weil jemand irgendwo etwas gesagt hat ..." Die Brigade habe monatelang die intensive Verteidigung gehalten, fast ohne ihre Positionen aufzugeben. Leider habe man Verluste erlitten: "Und das trifft uns sehr hart."

Aber auch ein ukrainischer Offizier mit dem Rufnamen "Alex" gibt auf seinem Telegram-Kanal ein Beispiel für die angebliche Inkompetenz des Kommandeurs: "Vor einigen Wochen wurde auf seinen direkten Befehl hin fast die gesamte Spitzengruppe des Nachrichtendienstes der Brigade an die Front geschickt, ohne dass dafür eine Notwendigkeit bestand", schreibt er. "Das Ergebnis: der Chef des Nachrichtendienstes der Brigade - tot, der Artilleriechef eines der angeschlossenen Bataillone - tot, der Oberfeldwebel der Nachrichtenkompanie - tot, der Kommandeur der Nachrichtenkompanie - verletzt."

Schewtschuk habe durch sein Vorgehen die gesamte Verwaltung des Nachrichtendienstes der Brigade zerstört. Zudem seien Soldaten in schwerwiegende Kämpfe entsendet worden, die zuvor nicht mehr als die militärische Grundausbildung absolviert hätten.

Angehörige in Sorge und Ungewissheit

Zusätzlich melden sich auch die Angehörigen der Soldaten der 59. Brigade zu Wort. Zahlreiche Soldaten seien spurlos verschwunden und das Kommando liefere keine Informationen über deren Verbleib, schreiben sie – ebenfalls in einem offenen Brief.

Anders als in anderen Brigaden wisse man nicht, ob ihre Verwandten tot seien oder in russischer Gefangenschaft. "Unsere Jungs sind kein 'Kanonenfutter'. Wir dürfen nicht zulassen, dass ihr Leben so rücksichtslos aufs Spiel gesetzt wird", betonen die Familienangehörigen in ihrem Appell. Sie fordern eine Untersuchung der Vorfälle, bessere Sicherheitsbedingungen an der Front und regelmäßige, transparente Informationen über den Verbleib ihrer Liebsten.

Der ukrainische Generalstab hat auf die Kritik reagiert und eine Ermittlungskommission unter der Leitung des Chefs des militärischen Strafverfolgungsdienstes entsandt, heißt es in einer offiziellen Mitteilung auf Telegram.

Alarmierende Verluste

Die 59. Brigade, eine Formation mit Kampferfahrung im südlichen Cherson- und östlichen Donbass-Sektor, wird derzeit westlich der Stadt Donezk eingesetzt, wo eine russische Großoffensive auf den regionalen Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk abzielt. Die Verluste in der Brigade dabei sind alarmierend. In den letzten Monaten haben zahlreiche Soldaten ihr Leben verloren oder gelten als vermisst. Die Region Donezk als Brennpunkt intensiver Kämpfe stellt eine immense Herausforderung für die Truppen dar.

Würde Schewtschuk ausgetauscht, wäre dies der zweite Fall innerhalb kurzer Zeit, in dem ein Kommandeur wegen Fehlentscheidungen und hohen Verlusten gefeuert würde. Nach Berichten über schwere Verluste in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte hatte Präsident Selenskyj im Juni den Generalleutnant Jurij Sodol gefeuert. Der Stabschef der umstrittenen Asow-Brigade, Bohdan Krotewytsch, hatte Sodol zuvor fahrlässige Befehle vorgeworfen, die zu erheblichen Verlusten geführt hätten. "Er hat mehr ukrainische Soldaten umgebracht als irgendein russischer General", schrieb Krotewytsch in einem Beitrag bei Telegram.

Verwendete Quellen

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