Seit Russland am 10. Mai seine Offensive auf die Charkiw-Region in der Ukraine gestartet hat, leben die Menschen dort wieder in einem aktiven Kriegsgebiet. Wie aber gestaltet sich dieses Leben, wenn man alt ist? Wenn man Medikamente braucht, Hygieneprodukte, Strom und Treibstoff? All diese Dinge werden wegen der großen Gefahr nicht mehr in dieses Gebiet nahe der Stadt Wowtschansk geliefert. Unsere Autorin hat die Menschen dort besucht und mit ihren gesprochen – über den Krieg, das Leben – und den Tod.
In einem verwitterten Hof steht ein alter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht und erzählt vom Krieg. Wie ein in die Jahre gekommener Cowboy stellt er einen Fuß auf eine von Wind und Regen arg mitgenommene Holzbank, stützt seinen Ellbogen auf einem Knie ab. Er murmelt mehr, als dass er spricht.
Nur selten hebt er seinen Kopf, um seinem Gesprächspartner einmal direkt ins Gesicht zu blicken. Seine Haut ist von der Sonne gegerbt, seine Augen umrahmt von grauem, borstigem Haar. Er blickt nachdenklich in die Ferne, während er an einer Zigarette zieht.
Sasha: "Ich komme schon irgendwie klar"
Viel will Sasha nicht erzählen. Er hat Angst, dass die Russen wiederkommen, sein Gesicht in den Medien erkennen – und ihn dafür bestrafen, geredet zu haben. Dennoch erzählt er von seinem Leben im fast verlassenen Dorf. 2022 war Volokhivka eines der ersten Dörfer, das von russischen Soldaten eingenommen wurde. Im Herbst 2022 hatten ukrainische Streitkräfte die Dörfer und Städte der gesamten Charkiw-Region wieder befreit. Doch seit dem 10. Mai toben wieder Kämpfe in der Nachbarschaft.
Die Stadt Wowtschanksk, nur 14 Kilometer westlich gelegen, liegt in Schutt und Asche. Die Rauchwolken der Explosionen in der Stadt und der Umgebung kann Sasha von seinem Dorf aus beobachten. Auch in seiner direkten Umgebung spitzt sich die Lage mittlerweile wieder zu. Fliehen, wie es fast alle anderen Einwohnerinnen und Einwohner seines Dorfes taten, will er nicht.
"Ich komme schon irgendwie klar", sagt er. "Die meisten hier wollten weg und ließen die armen Kühe zurück, Hunde erwürgten sich selbst an den Ketten. Wie also", fragt er, "kann ich die Tiere verlassen?" Er habe seine Frau fortgeschickt, berichtet der 62-Jährige. "Aber hier sind meine Eltern, meine Schwestern, alle sind hier." Und Sasha nickt in Richtung eines Friedhofs, der sich nicht weit von seinem Haus entfernt befindet.
Neben dem alten Mann hängen improvisierte Pflanzgefäße aus alten Plastikflaschen und abgenutzten Eimern. Er und seine Frau hatten sie damals mit blauen Schnüren und Drähten an einem Gitter befestigt. Die Töpfe, heute gefüllt mit Erde und den wenigen Überresten abgestorbener Pflanzen, schwingen leicht im Wind, als träumten sie von einem vergangenen Sommer.
Sashas Haus ist in verblasstem Rosa und Weiß gehalten. Hier und da bröckelt der Putz ab und enthüllt das nackte Mauerwerk darunter. Einen Keller hat es nicht, doch die Raketen sind ja bisher auch noch nicht in Sashas Straße eingeschlagen. Wenn der Beschuss losgeht, beobachtet er das Treiben. Angst fühlt er keine. Mit seinen 62 Jahren schlägt sich der alte Mann allein durch. "Ich habe einen Brunnen", sagt er. "Das reicht."
Ihor: "Es gibt keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen"
Seinen Namen will er nicht nennen. Viel reden will er auch nicht – und spricht dennoch mehr als 20 Minuten. Der Mann, wir nennen ihn Ihor, lebt ebenfalls in Volokhivka. Seine Hunde bellen aufgebracht und versuchen, sich durch den brüchigen Holzzaun zu quetschen, um das Anwesen zu verteidigen. Dünn, ausgemergelt und schwach sehen sie aus. Verfilztes Fell, Flöhe und Fliegen zeichnen ein Bild von Verwahrlosung. Dennoch sind sie bereit zum Kampf – für ihr Territorium. "Russland ist wütend", wird Ihor später noch sagen. "Es gibt keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen." Und außerdem: So schlimm, wie alle immer sagten, seien die Russen ja gar nicht.
Sein Hof zeigt eine Szenerie von Verfall und Verwüstung. Die roten Ziegelwände der Gebäude, einst Zeugen des belebten Alltags, stehen entblößt und bröckelnd unter dem grauen, wolkenverhangenen Himmel. Die Dächer sind mit alten Wellblechplatten bedeckt, der Boden übersät mit Bruchstücken und Gerümpel – Holzscheite, alte Reifen, verrostete Metallteile und Überreste von Haushaltsgegenständen.
Eine Satellitenschüssel hängt einsam an der Wand eines Gebäudes. Sie wirkt deplatziert auf diesem Schauplatz des Niedergangs, als stünde sie symbolisch für eine verlorene Verbindung zur Außenwelt. Ihor humpelt zu seinem Holzzaun und blickt durch ein großes Loch hindurch. "Es gibt keine Verbindung nach draußen", sagt der alte Mann. "Kein Signal hier. Als ich das letzte Mal das russische Radiosignal hörte, als
Ihors Haut, von der Zeit gezeichnet, berichtet mit ihrer Bräune, ihren Furchen und Narben von den unzähligen Arbeitsstunden im Freien. Seine Augen sind scharf und wachsam, unter den geschürzten Lippen blitzen hin und wieder zwei bis drei übrig gebliebene Zähne durch. Die grauen Locken, die unter seiner braun melierten Baskenmütze hervorschauen, sind widerspenstig und ungekämmt. Auf deiner nackten Brust blitzt der Kreuzanhänger einer langen Kette, die er um den Hals trägt. Seine Muskeln sind sichtbar angespannt.
Ihor klagt über das Leben im Kriegsgebiet
Frust macht sich in Ihors Stimme breit. Der 68 Jahre alte Mann lebt allein auf diesem Hof. "Das Haus fällt auseinander, niemand kümmert sich mehr darum. Siehst du das Haus?", fragt er und blickt mit gerunzelter Stirn und wütenden Augen zu seinem Hof. "Eine Rakete ist dort im Garten gelandet und hat einen Apfelbaum zerstört. Eine andere landete auf meinem Dach und ist nicht explodiert." Ihor gibt die Schuld dafür den ukrainischen Soldaten. "Die verstecken sich hinter uns", meint er. Hinter dem Wald, der nördlich von seinem Haus steht, ist die russische Grenze. "Wir haben 300 Jahre hier gemeinsam gelebt – Ukrainer und Russen. Und plötzlich wurden wir Feinde. Warum das alles?"
Der ukrainischen Regierung gibt er die Schuld für seine Armut. "Willst du zeigen, in welcher Armut die Ukrainer leben?", fragt er und hebt seine Stimme. "Die humanitäre Hilfe kommt nicht mehr. Es hat keinen Sinn, danach zu fragen. Wenn der russische Sturm vorbei ist, dann erst. Und wir warten", sagt er. "Wenn die Russen dieses Gebiet besetzen wollen, dann wird das auch passieren." Ukrainische Helferinnen und Helfer würden ihm humanitäre Hilfe versprechen. Doch Ihor glaubt: "In einer Stunde oder in einer Woche kommen russische Soldaten hierher, also was soll das bringen?"
Auch Ihor hat einen Brunnen. Medizinische Unterstützung will er nicht, die brauche er nicht. "Ich lebe hier, bis ich sterbe", sagt er. Und auch er blickt zu dem Friedhof – genau wie Sasha 20 Minuten zuvor. Er sagt: "Auch dort ist vor kurzem eine Rakete gelandet – und hat ein paar Tote umgebracht. Es ist lustig hier – uns wird nicht langweilig."
Andrij und Marija: "Ihr hättet mal sehen müssen, wie der die Russen angebrüllt hat"
Ein Dorf weiter, vorbei an einem verbrannten und noch immer rauchenden Feld, lebt das Paar, das wir hier Andrij und Marija nennen wollen. Auch sie wollen ihre Namen nicht genannt sehen. Das Dorf liegt noch einmal näher an der russischen Grenze. Nur zwei Feldwege führen zu den wenigen Gebäuden. Grün-braune Wiesen und vertrocknete Büsche ziehen sich um die von Verfall gezeichneten Mauern.
Efeu wuchert. Dazwischen sprießen Rosen aus den löchrigen Holzzäunen und erzählen die Geschichte einer längst vergangenen Urlaubsromanze. Früher kamen jene Menschen hierher, die sich ein großes Sommerhaus auf dem Land leisten konnten. Heute sind die einzigen, die hier noch verbleiben, Andrij und Marija.
Und ihr Wohnhaus ist im Vergleich zu den anderen gut gepflegt. Sie haben auch ein Auto, das steht vor einer Lehmscheune, die ihre besten Jahre bereits lange hinter sich hat. Mit dem Wagen zu fahren – das wagen sie nicht mehr. Seit Monaten steht er hier, wie sie berichten. Ein Wellblechzaun verdeckt die Sicht in den Hof.
Aus dem geschlossenen Fenster blickt ein kleiner, schwarzer Hund. "Ihr hättet mal sehen müssen, wie der die Russen angebrüllt hat", sagt Marija und bekommt rote Flecken im Gesicht. Sie hätten auch einen Schäferhund, aber der sei lange nicht so aggressiv gegen die Besatzer gewesen. Damals. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit, als russische Soldaten auch dieses Dorf besetzt hatten.
Humanitäre Hilfe kommt nicht an
Marija wirkt weitaus jünger als ihr Mann. Zwar sieht man auch ihr die jahrelange Arbeit auf einem Bauernhof an – doch Andrij, dessen Haut von der jahrzehntelangen Arbeit im Freien gezeichnet ist, ist ein gebrechlicher Mann. Er trägt ein verwaschenes, beiges Henley-Shirt und eine abgetragene schwarze Hose. Seine Schildkappe, ein violetter Kontrast zu den erdigen Farben seiner Kleidung, sitzt schief auf seinem Kopf und verleiht ihm ein verschmitztes Aussehen.
Sein Bluthochdruck macht ihm große Sorgen. Er brauche Medikamente, sagt er, doch humanitäre Hilfe kommt nicht mehr in seinem Dorf an. Hygieneprodukte, Essen, Wasser – an allem müssen sie derzeit sparen.
Der letzte Checkpoint ukrainischer Soldaten liegt rund 45 Minuten Autofahrt entfernt. Viele Helferinnen und Helfer lassen die Soldaten und Polizisten dort nicht mehr durch, seit mehrere Freiwillige diesen Weg nahmen, um in die Frontstadt Wowtschansk zu fahren – und von Drohnen angegriffen wurden. An diesem Tag im Juni ist das Drohnenrisiko nicht ganz so hoch wie sonst, dem Wind und dem wolkenverhangenen Himmel sei Dank.
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Das Paar lebt zusammen mit ihren Kühen, dem Stier, den Schafen, Schweinen, Hühnern und Enten. Auch ihre vier Hunde und 15 Katzen machen es den beiden Alten schwer, ihr Grundstück zu verlassen. "Gestern haben wir eine Explosion hier in der Nähe gehört", erzählt Andrij. "Und allein heute wurden auf das Nachbardorf zwei Gleitbomben abgelassen – geht da bloß nicht hin", warnt er. Seit zwei Monaten gibt es keinen Strom mehr, mit einem Solarpanel und einem Generator hatten sie sich noch ein wenig Elektrizität erhalten können – doch auch der Treibstoff ist aufgebraucht.
Marija kümmert sich, soweit sie kann, um ihren Mann. Doch ganz so schnell, sagt er, lässt er sich nicht unterkriegen. "Ich kann noch gehen, ich kann noch stehen. Also kann ich auch die Tiere füttern. Und mich selbst."
In der Ferne sind währenddessen die Kämpfe lauter geworden. Auch in der Region sind hin und wieder Einschläge zu vernehmen. "Bitte", sagt Marija und blickt mit zusammengekniffenen Augen nach Westen, "bitte seid vorsichtig." Sie winkt ein letztes Mal, bevor das wegfahrende Auto um die Kurve fährt und sie nicht mehr zu sehen ist.
Verwendete Quellen
- Gespräche mit Bewohnern der Region Charkiw
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