Nach monatelangen Diskussionen um Taurus-Lieferungen an die Ukraine hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ein Machtwort gesprochen. Seine Begründung zur Absage wird stark kritisiert. Am Ende stellt sich die Frage: Was bringt Taurus wirklich? Politikwissenschaftler Hubert Zimmermann von der Universität Marburg analysiert strittige Punkte – und befindet andere Lieferungen im russischen Angriffskrieg als kriegsentscheidend.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Katharina Ahnefeld sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Dem monatelangen Ringen der Ampel-Koalition um Taurus setzte Olaf Scholz ein Ende. Die Bundesrepublik wird die begehrten Marschflugkörper im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht liefern. "Deutsche Soldaten dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein", sagte der Bundeskanzler jüngst der dpa.

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Das Basta sorgt für Kritik, nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus den eigenen Reihen. Die Unterstellung gar: Scholz lüge. Der Vorwurf, wichtige Entscheidungen aufzuschieben, bleibt weiter haften. Und das, obwohl der SPD-Politiker für seine Verhältnisse ein Machtwort gesprochen hat.

Taurus ist Chefsache, und der Chef hat entschieden. Ab wann eine direkte Kriegsbeteiligung vorliegt, ist rechtlich zwar stark umstritten – aber eben die eine entscheidende rote Linie. Im Verlauf des Krieges hat sich die Bundesrepublik zu einem der größten militärischen Unterstützer der Ukraine entwickelt.

Deutschland darüber hinaus noch weiter zu exponieren, scheint nicht der Wille des Kanzlers zu sein. Aktuelle Umfragen pflichten ihm bei. Die Mehrheit der Deutschen stellt sich hinter das Chef-Nein.

Taurus-Lieferung: Gewisse Beteiligung Deutschlands nicht abzustreiten

Das Ringen um die Präzisionswaffe ist nicht mit der Diskussion um beispielsweise Panzer-Lieferungen zu vergleichen. Diese war oft in einer Scheindebatte gemündet, auf die deutsche Absage folgte am Ende die Freigabe. Aber bei Taurus ist die Gemengelage hinsichtlich einer Kriegsbeteiligung komplexer.

Das sagt auch Professor Hubert Zimmermann, Experte für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik von der Universität Marburg: "Direkte Kriegsbeteiligung bedeutet genau das: Deutsche Soldaten sind beteiligt. Es ist strittig, ob es überhaupt möglich ist, die Zielsteuerung von Taurus allein der Ukraine zu überlassen." So müssten wohl zumindest Vertreterinnen und Vertreter der Herstellerfirma unterstützen.

Hinzu komme, dass sensible Daten der Luftwaffe in Echtzeit verarbeitet würden, diese würden somit der Ukraine zur Verfügung gestellt. Eine gewisse Beteiligung Deutschlands sei dann nicht abzustreiten. Und auch nicht die Gefahr, dass Taurus im weiteren Kriegsverlauf in russische Hände fallen könne.

Ein wichtiger Punkt: die Reichweite. Taurus hat, im Gegensatz zu bereits gelieferten britischen und französischen Marschflugkörpern, einen Radius von zirka 500 Kilometer. Somit würden wichtige russische Ziele erstmals in Reichweite der Ukraine rücken. Sogar Moskau.

"Wenn man sieht, dass Wladimir Putin keine Hemmungen hat, Kiew und ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten zu bombardieren, dann kann man sich vorstellen, dass sich die Ukraine irgendwann die Frage stellen wird, warum sie nicht auch die Hauptstadt des Kriegsgegners attackieren sollte", sagt dazu Zimmermann.

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Ein solches Vorgehen, so die große deutsche Angst, könnte aber russische Gegenschlägen auf Nato-Gebiet provozieren und einen Flächenbrand verursachen. Womit wir bei einem Vorwurf sind, der ebenfalls gegenüber Olaf Scholz laut wird: fehlendes Vertrauen in die Ukraine.

Fehlendes Vertrauen? Scholz will Risiko einer direkten Kriegsbeteiligung eliminieren

"Auch Frankreich und Großbritannien scheinen sich hinsichtlich der Zielauswahl mit der Ukraine abzustimmen. Das heißt für mich, dass auch diese Länder die Kontrolle nicht vollständig aus der Hand geben wollen", sagt Zimmermann.

Und ergänzt: "Eine vollständige Kontrolle ist nicht möglich, vor allem nicht, wenn der Partner, dem man die Waffen liefert, mit dem Rücken zur Wand steht." Am Ende sei es so: der Kanzler, gewählt von deutschen Bürgerinnen und Bürgern, müsse in letzter Instanz die deutschen Interessen priorisieren.

Ob nun mangelndes Vertrauen oder nicht, Scholz scheint mit seinem Nein auch das kleinste Restrisiko einer direkten Beteiligung eliminieren zu wollen. Erschwerend hinzu kommt: Von der einst so wichtigen Schutzmacht USA ist momentan keine weitreichende Hilfe zu erwarten. Das Land befindet sich im Wahlkampf, der Senat im Blockade-Modus und US-Präsident Joe Biden ist geschwächt.

Der enge Schulterschluss, wie Scholz ihn in der Vergangenheit unter anderem bei den Panzer-Lieferungen suchte, ist so nicht möglich. Aber eine Abstimmung anderer Art könnte hinter den Kulissen durchaus stattgefunden haben. Denn auch die USA schicken bislang keine Langstreckenmarschflugkörper.

Munition und Luftabwehr notwendig: "Aktuell lässt man sie am ausgestreckten Arm verhungern"

Am 24. Februar hat sich der russische Angriffskrieg zum zweiten Mal gejährt. Die rasche Eroberung der Ukraine blieb aus – aber eben auch der erhoffte ukrainische Sieg. Die Phase eines militärischen und politischen Abnutzungskrieges ist längst erreicht. Daher stellt sich zum Ende hin unweigerlich die Frage: Was bringt Taurus wirklich?

Kriegsentscheidend dürfte das Waffensystem in der momentanen Situation nicht sein. Klar, Russland müsste seine militärischen Einrichtungen viel weiter entfernt von der Front errichten. Und ja, die Krim-Brücke wäre einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt. Aber: Die Zahl der Marschflugkörper ist begrenzt, und bis Taurus einsatzbereit wäre, könnten Monate vergehen.

"Die weitere Unterstützung der Ukraine ist gerechtfertigt, weil man nicht weiß, wo Russland Halt machen wird."

Dr. Hubert Zimmermann, Politikwissenschaftler

Entscheidender seien momentan Munition und Luftabwehr, meint Zimmermann. Und befindet: "Aktuell lässt man die Ukraine am ausgestreckten Arm verhungern." Westliche Staaten sollten nicht über einzelne Waffensysteme streiten, sondern lieber eine Strategie entwickeln, wie man die Ukraine in die Lage versetzen könne, die Linie zu halten.

Zimmermann: "Wenn es Putin nur um die Krim und den Donbass gegangen wäre, hätte man sich – vielleicht – bereits einigen können. Aber er will mehr. Die weitere Unterstützung der Ukraine ist gerechtfertigt, weil man nicht weiß, wo Russland Halt machen wird."

Über den Gesprächspartner

  • Professor Dr. Hubert Zimmermann ist Politikwissenschaftler und Historiker und Experte für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere militärische Auslandsinterventionen. Seit 2009 leitet er das Lehrgebiet Internationale Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg.
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