Die Ukraine hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte im Kampf gegen Korruption gemacht, unterstützt durch internationale Hilfe und Reformen. Welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, wie hilfreich sind sie und gibt es Schlupflöcher für Wohlhabende, um dem Militärdienst zu entgehen?

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Seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 kämpft die Ukraine einen Kampf – nicht gegen Feinde von außen, sondern einen Kampf innerhalb der eigenen Grenzen. Reich gegen Arm, Einfluss gegen Abhängigkeit, Macht gegen Machtlosigkeit. Es ist der Kampf gegen die grassierende Korruption im Land.

Und dabei hat die Ukraine einige Erfolge erzielt. Die Organisation Transparency International bewertet das vom Krieg gegen Russland gezeichnete Land aktuell auf seinem besten Stand seit 2006: Platz 104 von 180 Ländern im Korruptionswahrnehmungsindex.

Allerdings steht dieser bei Experten auch in der Kritik. Der Schweizer Korruptionsforscher Michael Derrer etwa erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Häufig wird der 'Corruption Perception Index' zitiert, um den Grad der Korruption darzustellen. Dieser gibt aber bloß die Wahrnehmung der Korruption wieder. Also: 'Habe ich das Gefühl, dass die Gesellschaft um mich herum korrupt ist oder nicht?'" Diese Wahrnehmung könne allerdings durch viele Faktoren beeinflusst werden, meint der Experte. "Wenn zum Beispiel weniger Artikel über Korruption in der Presse erscheinen, erhalte ich das Gefühl, dass es weniger davon gibt – auch wenn es Ausdruck einer eingeschränkten Pressefreiheit ist."

Korruption erschwert EU-Beitritt und schränkt westliche Hilfen ein

In der Ukraine wird indes regelmäßig über Korruption und deren Aufdeckung berichtet – weshalb es in dem Land auch bereits mehrere Fälle gab, in denen Journalisten von hohen Regierungsbeamten bedrängt, abgehört oder bedroht wurden.

Immer wichtiger wurde der Kampf gegen Korruption gerade wegen des andauernden Krieges gegen Russland. Zum einen, weil dieser den Beitrittsprozess in die Europäische Union beschleunigt hat und die Bekämpfung der Korruption als eines der Hauptziele gilt. Genauer gesagt, ist er einer von sieben Schritten, die die EU-Kommission der Ukraine vorgegeben hat, um Mitglied in der Staatengemeinschaft werden zu können.

Zum anderen könnte die Korruption die westlichen Hilfen beeinträchtigen – denn die Sorge, dass westliche Hilfsgelder veruntreut werden, wächst. Darum haben etwa die USA Zugang zu ukrainischen Haushaltsbüchern und kontrollieren damit, wie die US-Hilfen verwendet werden.

Dabei ist zunächst einmal wichtig zu verstehen, wie sich die Korruption im Land darstellt. Experte Derrer etwa definiert Korruption anders, als sie die Forschung in der Vergangenheit betrachtet hat. "In meiner Forschung definiere ich Korruption als 'Möglichkeit, Gesetze und moralische Prinzipien nicht befolgen zu müssen'." Diese Möglichkeit sei eine Ressource, die in der Gesellschaft ungleich verteilt ist: Wer mehr Macht habe, bessere Beziehungen, Geld und Einfluss, könne diese Ressource häufiger und umfassender nutzen als andere. "In Ländern wie Russland und der Ukraine ist dies sehr bedeutsam für die soziale Hierarchie – also, wer in der Gesellschaft oben und wer unten steht."

Skandale im Verteidigungsministerium

Im Westen, sagt der Korruptionsforscher, bestimmen etwa Geld und Bildungsniveau über die soziale Hierarchie. In der Ukraine ist es die Möglichkeit, Gesetze nicht befolgen zu müssen. Zusätzlich dazu kamen in der Vergangenheit auch Fälle ans Licht, in denen hohe Beamte beschuldigt werden, Gelder zu veruntreuen – Korruption also, die der grundsätzlichen Definition entspricht: den Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil.

Erst im Januar dieses Jahres deckte der Inlandsgeheimdienst eigenen Angaben zufolge einen Veruntreuungsskandal in den Reihen des Verteidigungsministeriums auf. Demnach soll versucht worden sein, 1,5 Milliarden Griwna (rund 33,5 Millionen Euro) zu veruntreuen, indem man 100.000 Mörsergranaten bestellt hat, die nie geliefert wurden.

Anfang 2023 traten mehrere hochrangige Politiker und Beamte nach Korruptionsvorwürfen zurück oder wurden entlassen. Den Ausschlag gaben Medienberichte, wonach das Verteidigungsministerium Lebensmittel für Soldaten zu deutlich überhöhten Preisen eingekauft hat. In der Folge wurde am Ende sogar der damalige Verteidigungsminister Oleksij Resnikow ausgetauscht – auch wenn er selbst nicht unter Korruptionsverdacht steht.

Ein großes Thema in der Korruptionsbekämpfung hängt auch mit dem massiven Personalmangel im ukrainischen Militär zusammen. Es gab in der Vergangenheit häufig Berichte darüber, dass sich wohlhabende Ukrainer vom Militärdienst freikaufen konnten oder mithilfe von Zahlungen an Grenzbeamte unerlaubt das Land verließen. Vergangenes Jahr entließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj alle regionalen Beamten, die für die Militärrekrutierung zuständig waren, wegen Bestechungsvorwürfen. Tausende Ukrainer sollen sich demnach aus dem Land heraus bestochen haben, um nicht in den Krieg geschickt zu werden.

Gerüchte: Können sich Reiche bald offiziell vorm Kriegsdienst drücken?

Michael Derrer erklärt, dass bei etwaigen Bestechungen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Beamten an den Grenzen verdienen. "Man muss davon ausgehen, dass es sich um eine Korruptionspyramide handelt – das Geld fließt in der Hierarchie nach oben."

Dem Experten zufolge könne man sich einen Job beim Zoll kaufen – und der hat seinen Preis. Dafür bekommt man dann in Form inoffizieller Zahlungen wieder etwas zurück. Derrer sagt: "Beamte erhalten Vorgaben für Einnahmen aus der Ein- und -Ausfuhr von Waren: Sie müssen eine bestimmte Summe illegaler Zahlungen am Tag einbringen, von dem ein großer Teil den Vorgesetzten übergeben wird, und so geht das die Hierarchie hoch." Der Experte geht davon aus, dass es bei der Ausreiseerlaubnis für kriegsdienstfähige Männer sehr ähnlich läuft.

Gerüchte darüber, dass sich künftig Reiche ganz offiziell vor dem Kriegsdienst drücken können, erwiesen sich allerdings bisher als haltlos. In einem Bericht der "taz" vom Januar dieses Jahres heißt es etwa, die Regierungspartei "Diener des Volkes" diskutiere inoffiziell darüber, anhand der Höhe der Einkommenssteuer festzumachen, ob Männer von den militärischen Pflichten befreit werden könnten. Durchsetzen konnte man solche Überlegungen aber offensichtlich nicht: Weder im neuesten Einberufungsgesetz vom Mai 2024 gibt es einen derartigen Absatz, noch konnte Experte Derrer etwas darüber finden.

Aktiv kämpft die Ukraine seit den Massenprotesten auf dem Maidan 2013/2014 gegen die Korruption im Land an. 2014 hat die damalige Regierung um Petro Poroschenko umfassende Antikorruptionsreformen mit einem neuen Gesetz begonnen. Dazu gehören die Gründung des Nationalen Antikorruptionsbüros (Nabu) und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (Sapo) im Jahr 2015, die hochrangige Korruptionsfälle untersuchen und anklagen. 2019 wurde das unabhängige Oberste Antikorruptionsgericht (Hacc) eingerichtet, um diese Fälle vor Gericht zu bringen.

Zusätzlich hat die elektronische Beschaffungsplattform ProZorro dem Staat Milliarden eingespart und die Einführung von E-Declarations für Beamte Transparenz geschaffen. Diese Maßnahmen haben die Bekämpfung der Korruption in der Ukraine signifikant gestärkt.

Experte: Ukraine muss demokratisiert werden

Dennoch, sagt Derrer, reichen infrastrukturelle Maßnahmen allein nicht aus, um der Korruption effektiv Herr zu werden. "Man müsste die gesellschaftlichen Strukturen demokratisieren, allen Bürgern den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen ermöglichen, die Gesellschaft öffnen", erklärt er. "Das würde bedeuten, mehr Chancen für Kleinunternehmen zu schaffen, und von unten gewachsenen Bürger-Organisationen Zugang zum politischen System zu gewähren." Die Verengung auf die oligarchischen Strukturen müsste demnach also aufgehoben werden.

Derrer zitiert in diesem Zusammenhang den Korruptionsforscher Michael Johnston, der den Begriff der "Deep Democratisation", also eine tiefgreifende Demokratisierung, prägte. "Von diesem Ziel ist man heute aber weit entfernt. Es handelt sich um einen langfristigen Prozess, der wohl kaum innerhalb einer Generation vollbracht werden kann", sagt der Experte. Man könne Gesetze und Maßnahmen allerdings an diesem Ziel orientieren und sich immer fragen, ob ein neues Gesetz oder eine Maßnahme im Sinne der "Deep Democratisation" sei oder nicht.

"Korrupte Mechanismen sind in vielen Bereichen eher die Regel als die Ausnahme."

Michael Derrer, Korruptionsforscher

Was aber hindert die Ukraine daran, dies durchzusetzen? Laut Derrer reiche die Korruptionsspirale bis weit in die Vergangenheit zurück: "Seinen Ursprung haben die heutigen Strukturen in der ausgehenden Sowjetunion, aus deren Konkursmasse die heutige Ukraine entstanden ist." Es greife zu kurz, nur eine Handvoll Oligarchen für die Missstände verantwortlich zu machen. "Das politische und ökonomische System der Ukraine ist über Jahrzehnte hinweg so gewachsen und korrupte Mechanismen sind in vielen Bereichen eher die Regel als die Ausnahme", führt der Experte aus.

Um der Ukraine Hilfestellungen im EU-Beitrittsprozess zu geben, entsendet die Europäische Union bereits seit Jahren Experten nach Kiew. Doch Derrer sieht darin auch ein Risiko: "Die Gefahr in der Umsetzung der Empfehlung ausländischer Berater ist, dass die Maßnahmen am Ende nur eine Fassade bilden und sich in der Sache nichts ändert."

Korrupte Mechanismen seien dann nur besser versteckt – oftmals getarnt als normale Markthandlungen. "Oder Korruption verschiebt sich von Geldflüssen hin auf die Beziehungsebene, wo ein Gefallen von heute durch einen Gegengefallen zu einem späteren Zeitpunkt vergolten wird – das lässt sich strafrechtlich nicht verfolgen. Der Schaden für die Gesellschaft ist aber nicht kleiner."

Über den Gesprächspartner

  • Michael Derrer ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Hochschule Luzern. Er unterstützt Schweizer Unternehmen bei der Expansion nach Osteuropa und ist Justizdolmetscher für die Bundesanwaltschaft. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Wirtschaft und Geschäftskultur sowie die Korruption in osteuropäischen Ländern. Er besitzt Abschlüsse in Wirtschaftssoziologie, Wirtschaft und Recht, Public Policy Management und Politikwissenschaften.

Verwendete Quellen

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