Die ukrainische Regierung steht unter Druck, Wahlen durchzuführen. Doch der Krieg und die damit verbundenen Herausforderungen stellen große Hürden dar. Wahlen unter den aktuellen Bedingungen sind laut Experten nur schwer realisierbar.

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Die Uhr tickt, sagen einige in Washington. Schon im Juli könnten in der Ukraine Wahlen stattfinden – wenn das Kriegsrecht bis dahin aufgehoben ist. Das berichtete kürzlich der "Economist" und berief sich auf Quellen im Umfeld des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Demnach soll dieser sein Team bereits beauftragt haben, sich auf eine Abstimmung vorzubereiten – vorausgesetzt, ein Waffenstillstand tritt in Kraft. Doch wer in diesen Tagen nach Kyjiw schaut, sieht ein Land im Kampfmodus. Das gilt für die Front, das gilt aber auch für die Politik.

In der Ukraine gilt seit Februar 2022 das Kriegsrecht. Das bedeutet: Wahlen sind verboten – nicht aus Machtkalkül, sondern weil sie faktisch unmöglich sind. Derzeit ist ein Fünftel des Landes besetzt. Städte sind zerstört, Straßen unpassierbar, Wahllokale potenzielle Ziele. Millionen Menschen sind geflohen oder leben als Binnenvertriebene. Allein die Neuregistrierung der Wählerinnen und Wähler wäre ein logistischer Kraftakt. Unter diesen Bedingungen freie, faire Wahlen zu organisieren – das ginge an der Realität vorbei.

Die Forderungen nach Wahlen in der Ukraine werden lauter

Zur gleichen Zeit wird hingegen der Druck größer: Aus dem Ausland, wo man die demokratische Legitimation Selenskyjs infrage stellt, wie zuletzt US-Präsident Donald Trump, der Selenskyj gar einen "Diktator ohne Wahlen" nannte. Und aus Russland, das mit dem Verweis auf ausgebliebene Wahlen das Narrativ einer "Kriegsdiktatur" stützt.

Viele ukrainische Bürgerorganisationen setzen sich für freie und faire Wahlen ein. Sie sind sich laut der ukrainischen Politikwissenschaftlerin Elena Davlikanova aber einig, dass Wahlen nur dann stattfinden dürfen, wenn die richtigen Bedingungen gegeben sind, um die Integrität des Prozesses und der Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei, schreibt Davlikanova für den US-amerikanischen Thinktank "Wilson Center", sei die Sicherheit ein übergeordnetes Anliegen. Die Demokratie stirbt nicht, wenn sie in Sicherheit gebracht wird. Sie stirbt, wenn sie zur Bühne für den nächsten Angriff wird.

Voraussetzung für Wahlen: Das Ende des Kriegsrechts

Eine Wahl könnte also nur unter Beendigung des Kriegsrechts stattfinden. Dies würde nur passieren, wenn der Krieg endet oder zumindest ein gesicherter Waffenstillstand ausgehandelt wurde.

Wie realistisch ein Ende des Krieges ist? Nicht sehr, sagt Andreas Heinemann-Grüder, Senior Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies der Universität Bonn, auf Anfrage unserer Redaktion. "Die Wahrscheinlichkeit liegt meiner Einschätzung nach unter 50 Prozent, da Russland sich im Vorteil wähnt, unerfüllbare Forderungen stellt und ein Waffenstillstand nur zeitlich und sachlich begrenzt wäre", erklärt er. Zudem müssten die USA massiven Druck auf Moskau ausüben, China müsste einer UN-Resolution zustimmen – beides ist derzeit nicht absehbar. Selbst wenn es zu einem Waffenstillstand käme, wäre dieser brüchig – und damit keine stabile Grundlage für demokratische Wahlen.

Kein stabiler Waffenstillstand in Sicht

"Während anhaltender Kampfhandlungen wird es keine Wahlen geben", führt Heinemann-Grüder aus. Der amerikanische Druck auf Selenskyj habe dessen Zustimmungsrate konsolidiert – der innenpolitische Druck für Neuwahlen habe abgenommen, die Ukrainer haben sich angesichts des harschen US-Vorgehens noch mehr hinter ihrem Präsidenten versammelt. Ein stabiler Waffenstillstand ist nicht in Sicht, der politische Rückhalt für Selenskyj hingegen ist größer geworden.

Die größten Hürden aber liegen nicht in den politischen Umfragen, sondern auf der Straße. Im Wortsinne. Der Weg zum Wahllokal führt in manchen Regionen durch Beschusszonen, Brücken über den Dnipro werden bei Luftalarm gesperrt, Wahllokale könnten gezielt attackiert werden. Russland habe, so Heinemann-Grüder, ein Netz von Kollaborateuren aufgebaut, die aktiv Einfluss auf die Wahl nehmen oder durch Desinformation deren Legitimität untergraben könnten.

Auch logistisch bleibt vieles unlösbar. Mehr als sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind außer Landes geflohen, mehr als drei Millionen im Land vertrieben. Ihre Adressen? Häufig veraltet oder nicht registriert. In den von Russland kontrollierten Gebieten ist an eine Wahl ohnehin nicht zu denken. Dort, sagt Heinemann-Grüder, werde die ukrainische Staatsangehörigkeit gezielt unterdrückt, Menschen zur Annahme russischer Pässe gedrängt. Unter solchen Bedingungen sei keine Wahl frei – und keine fair.

Wie also wählen, wenn Millionen nicht mehr dort leben, wo sie gemeldet sind? Wenn Wahllokale zerstört sind und eine Rückkehr ungewiss ist? Die Behörden-App "Dija" hat in der Vergangenheit über 21 Millionen Nutzer erreicht – beim Eurovision-Voting etwa. Eine Option für künftige Wahlen ist dies dennoch nicht. Denn beim Eurovision-Voting "stürzte das System ab, daher kann man es noch nicht als zuverlässig bezeichnen", sagt die Parlamentsabgeordnete Alina Sahorujko von der regierenden Partei "Diener des Volkes" gegenüber der "Deutschen Welle".

Zudem sehen Experten die Notwendigkeit für sichere Server, verifizierbare Nutzer und Schutz vor Manipulation unter Kriegsbedingungen nicht gegeben. Und selbst wenn die Technik hält: Russland könne auch digital angreifen, durch Hacker, durch gezielte Desinformation. Davor warnt das Netzwerk "Opora" gegenüber der "Deutschen Welle".

Selbst im Frieden sind Wahlen kompliziert

Und was wäre, wenn morgen Frieden wäre? Auch dann wäre eine Wahl kein Selbstläufer. Es bräuchte eine neue Wählerregistrierung, eine Klärung, ob und wie auch mögliche Kollaborateure wählen oder kandidieren dürfen. Parteien müssten sich neu formieren, Finanzierungsmodelle entwickelt, Wahllokale gesichert werden – selbst die elektronische Stimmabgabe in umkämpften Gebieten brächte Risiken. Und doch sagt Heinemann-Grüder: All das müsste geregelt sein, bevor überhaupt an eine Wahl zu denken ist.

Bleibt die Frage: Warum denkt Selenskyjs Regierung überhaupt laut über Wahlen nach? Der Experte sieht einen außenpolitischen Grund: "Die ukrainische Regierung will nicht den Eindruck befeuern, eine Kriegsdiktatur zu sein – ein Eindruck, der gezielt in Russland und den USA verbreitet wird." Das Problem: Wer in den USA mit dem Begriff "Diktator ohne Wahlen" hantiert, spielt Putin in die Hände. Und delegitimiert einen Präsidenten, der – wie jüngste Umfragen zeigen – immer noch auf breite Zustimmung in der Bevölkerung zählen kann.

Selenskyjs Chancen stünden, Stand jetzt, gut, sagt Heinemann-Grüder. Besser als die seines einstigen Generals Saluschnyj, besser auch als die des früheren Präsidenten Petro Poroschenko, von dem Heinemann-Grüder annimmt, dass er nicht erneut kandidieren wird. Und doch: Laut "Kyiv Independent" kündigte Poroschenko im April 2024 an, erneut für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen – allerdings erst nach einem ukrainischen Sieg über Russland. Zudem äußerte er die Absicht, künftig bei den Wahlen zum Europäischen Parlament anzutreten, sobald die Ukraine EU-Mitglied sei.

Aber Wahlergebnisse unter Kriegsrecht? Momentaufnahmen, kaum aussagekräftig. Demokratie, so scheint es, braucht Frieden. Zumindest einen Hauch davon. Und die Zeit, um sich zu sortieren. Der Wille, möglichst bald nach Kriegsende zu wählen, ist nachvollziehbar. Doch zuvor braucht es ein angepasstes Wahlgesetz, sichere Abläufe und aktualisierte Wählerverzeichnisse – erst dann lassen sich Wahlen regulär organisieren.

Verwendete Quellen: