Der russische Krieg gegen die Ukraine hat die Hafenstadt Mykolajiw hart getroffen. Doch die Menschen dort schöpfen Hoffnung aus einem Plan für die Zukunft. "Der Krieg wird eines Tages enden. Wir wollen keine Zeit verlieren, uns darauf vorzubereiten", sagt Bürgermeister Oleksandr Syenkevych.
In normalen Zeiten war Mykolajiw ein wichtiger Industrie- und Universitätsstandort, ein Zentrum des Schiffbaus. Doch die normalen Zeiten sind seit drei Jahren vorbei. Die Stadt im Südwesten der Ukraine war seit Beginn der russischen Invasion immer wieder Ziel von massiven russischen Angriffen, sogar Wohnhäuser und die Wasserversorgung wurden zerstört. Die Summe der Schäden bezifferte sich auf fast 900 Millionen Euro.
Inzwischen ist die Lage etwas ruhiger. "Was zu zerstören wäre, ist bereits zerstört", sagt Mykolajiws Bürgermeister Oleksandr Syenkevych. In dieser Woche war er zu Gast in Berlin: bei der Konferenz "Café Kyiv" der Konrad-Adenauer-Stiftung. Rund 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer tauschten sich dort auf mehreren Bühnen aus. Über das Leben im Krieg und die Pläne für eine Zeit danach.
Syenkevych ist es wichtig, seine Stadt nicht als zerstörte Frontstadt darzustellen – sondern als Ort, der Hoffnung macht.
Herr Syenkevych, Mykolajiw soll zu einem wichtigen Innovationsstandort in der Ukraine werden. Ist das nicht ein etwas zu kühner Plan, wenn der Krieg noch tobt?
Oleksandr Syenkevych: Der Krieg wird eines Tages enden. Wir wollen keine Zeit verlieren, uns darauf vorzubereiten. Die Städte Mykolajiw und Charkiw arbeiten zusammen mit der Europäischen Kommission an einem Masterplan. Es geht dabei um eine Strategie für den Wiederaufbau. Wir wollen uns schon jetzt mit Partnern und Investoren vernetzen – auch um zu erfahren, was sie brauchen, um sich in der Ukraine zu engagieren.
Und was ist das?
Wenn der Krieg endet, wird die größte Herausforderung der Mangel an Menschen sein. Für den Wiederaufbau sind viele Fachkräfte nötig. Deswegen brauchen wir die Ausstattung, um Kinder und Jugendliche gut auszubilden – und deswegen sind Bildung und Wissenschaft so wichtig. Partner aus Deutschland helfen uns dabei. Sie sponsern zum Beispiel Stipendien für Mädchen, die Wissenschaftlerinnen werden wollen.
Offenbar kehren inzwischen viele Menschen zurück. Mykolajiw hatte vor dem Krieg 470.000 Einwohner, im Juni 2022 waren es nach den massiven russischen Luftangriffen nur noch 230.000. Und jetzt hat die Stadt ihre alte Einwohnerzahl wieder erreicht.
Ja, die Menschen kommen zurück. Die Herausforderung ist es, sie zum Bleiben zu bewegen. Auch etwa 60.000 Binnenvertriebene aus der Umgebung und aus der umkämpften Stadt Cherson sind zu uns gekommen. Wir sehen sie als neue Bürgerinnen und Bürger von Mykolajiw. Damit sie bei uns bleiben, brauchen sie natürlich eine Wohnung, einen Arbeitsplatz, einen Kita-Platz und so weiter.
In Deutschland hält sich hartnäckig ein Vorurteil: Die Ukraine gehört zu den korruptesten Staaten in Europa. Wenn öffentliche Gelder dorthin fließen, könnten sich korrupte Menschen vor allem daran bereichern.
Seit der russischen Vollinvasion haben wir die Gelder unserer Spender und Partner nicht selbst ausgegeben. Wenn wir etwas brauchen, bitten wir sie, es selbst bereitzustellen. Deswegen vertrauen sie uns. Wir haben den Ruf einer Antikorruptionsstadt.
"Vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität muss vermittelt werden: Korruption ist etwas Unnatürliches für die neue Ukraine."
Wie haben Sie das geschafft?
Wir arbeiten eng mit Dänemark zusammen, dem am wenigsten korrupten Land der Welt. Wir haben als erste ukrainische Stadt eine Webseite aufgebaut, auf der wir unsere Ausgaben und Antikorruptionsmaßnahmen dokumentieren. Korruption hat etwas mit der menschlichen Natur zu tun. Menschen sind schwer zu verändern. Aber man kann Abläufe und Regeln verändern – um diejenigen, die Entscheidungen treffen, von denen zu trennen, die davon profitieren. Trotzdem müssen wir uns auch um den menschlichen Faktor kümmern.
Und wie?
Da ist die Bildung der Schlüssel. Vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität muss vermittelt werden: Korruption ist etwas Unnatürliches für die neue Ukraine.
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Niemand in der Ukraine will, dass der Krieg weitergeht. Wir sind diejenigen, die vom ersten Tag an unter der russischen Vollinvasion leiden. Wir haben Russland nicht überfallen und hatten auch vor dem Krieg keinerlei Konflikte mit Russland. In den vergangenen drei Jahren sind in Mykolajiw 184 Menschen wegen russischer Raketen oder Drohnen gestorben. Sie alle haben Russisch als Muttersprache gesprochen. Wenn Wladimir Putin also sagt, er wolle mit diesem Krieg die russischsprachigen Menschen schützen, ist das komplett unwahr. Er terrorisiert unsere Städte, greift unsere Wasser- und Wärmeversorgung an.
Was braucht die Ukraine, wenn es wirklich zu einem Waffenstillstand kommt?
Wir brauchen Garantien, dass dieser Krieg nicht in einem Jahr erneut beginnt, wenn Russland neue Kräfte gesammelt hat und noch mehr Truppen, noch mehr Panzer schickt. Wir hatten schon einmal diese Garantien von den USA: 1994 haben die Amerikaner uns Schutz versprochen, wenn wir unsere Nuklearwaffen abgeben. Wir haben sie abgegeben, wir haben unseren Teil der Vereinbarung eingehalten – aber jetzt haben wir keine Sicherheitsgarantien mehr.
Wenn die Amerikaner sich zurückziehen – was erwarten Sie von Europa?
Immerhin hat Europa verstanden, dass es sich nicht mehr auf die USA verlassen kann, wenn es sich vor Russland schützen will. Die Ukraine beschützt die Europäer, wir sind der Schutzschild für euch. Donald Trump wird in vier Jahren nicht mehr an der Macht sein. Bis dahin müssen wir aber überleben – und hoffen auf die Unterstützung Europas.
Über den Gesprächspartner
- Oleksandr Syenkevych hat ein IT-Unternehmen mitgegründet, bevor er 2015 Bürgermeister seiner Heimatstadt Mykolajiw wurde. 2020 wurde er wiedergewählt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs setzt sich der 43-Jährige unter anderem für den Wiederaufbau der Stadt und Transparenz in der Verwaltung ein.