Gespannt wird auf die angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine gewartet. Leaks amerikanischer Geheimdokumente und verzögerte Lieferungen aus dem Westen haben die Planungen auf die Probe gestellt. Was sind die Ziele Kiews, wo liegen die Gefahren und könnte der Krieg damit in diesem Jahr beendet werden? Ein Experte ist skeptisch.
Bei jeder vermeldeten Kampfhandlung aus der Ukraine fragt sich die Welt gespannt: Ist das schon der Start der Frühjahrsoffensive? Zuletzt berichteten russische Militärs von ukrainischen Angriffen in der Region Donzek. Den Beginn der Offensive sehen Experten darin allerdings noch nicht.
"Die Offensive hat noch nicht begonnen, was wir jetzt sehen, sind Aufklärungstätigkeiten und der Versuch, die Reaktionszeiten russischer Reserven auszutesten", sagt Militärexperte Gustav Gressel. Die logistischen Vorbereitungen liefen noch, man sei erst in der Anfangsphase. "Mit einer Frühjahrsoffensive ist im späteren Mai oder Anfang Juni zu rechnen", schätzt er.
Experte: "Die Ukraine hat eine Patrone im Revolver, der Schuss muss sitzen"
Ein Faktor sei das Wetter. "Man wird noch warten, bis das Wasser aus der Schneeschmelze abtrocknet", erklärt der Experte. Am wichtigsten sei aber die Verfügbarkeit von Gerät und Munition. Hier würden noch Lieferungen ausstehen, die dann anschließend in Verbände integriert werden müssten. Das westliche Gerät mache bereits einen Unterschied, Munition bleibe aber weiterhin ein Problem.
"Kiew ist ausgerüstet für eine Offensive – allerdings wirklich nur für eine", analysiert Gressel. Das Gerät, zum Beispiel Panzer, werde eine höhere Ausfallquote haben als etwa Artilleriesysteme oder Fliegerabwehrraketen: "Es ist schließlich viel stärker in direkte Kampfhandlungen involviert."
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Bei Schäden sei es dann schwierig, Ersatz zu bekommen, denn die europäischen Regierungen zeigten sich knauserig mit der Renovierung von gebrauchten Leopard-Panzern. Gressel fasst zusammen: "Die Ukraine hat eine Patrone im Revolver, der Schuss muss sitzen." Wenn die Offensive schiefgehe, habe Kiew aktuell nicht die Kraft, eine zweite Offensive anzuberaumen.
Ziele der geplanten Ukraine-Offensive
Die Ziele sind derweil klar: Besetztes Territorium befreien und die Russen aus Gebieten zurückwerfen. "Kiew will die russische Armee weiter schwächen und vorführen", sagt Gressel. Außerdem wolle man gegenüber der eigenen Bevölkerung und gegenüber dem Ausland unterstreichen, dass man den Krieg gewinnen und die offensiven Gewinne Russlands rückgängig machen kann. Eine erfolgreiche Offensive stärke sowohl Moral als auch die internationale Unterstützung.
Westliche Regierungen könnten ihren Bürgern dann erklären, dass sich die kostspielige Unterstützung lohnt. Geht die Offensive schief, könnte der Westen, allen voran die USA als entscheidender Waffenlieferant, ihr Engagement allerdings hinterfragen. Im kommenden Jahr wird in den USA gewählt.
Ukraine will Position der Stärke erreichen
"Kiew will Moskau unter Druck setzen – es gibt sich derzeit komplett verhandlungsunwillig und setzt auf einen langen Krieg", sagt Gressel. Dabei spekuliere Moskau auch beispielsweise auf einen Wahlsieg der Republikaner, auf Störungen durch populistische Zwistigkeiten in Europa und darauf, dass sich das Lieferpotenzial des Westens erschöpft. Putin hat für Gespräche die Vorbedingung ausgegeben, dass alle besetzten Gebiete russisch bleiben. Die Ukraine rückt gleichzeitig nicht von ihrem Ziel ab, die Kontrolle über alle Teile des Landes zurückerhalten zu müssen.
"Die Ukraine will sich mit ihrer Offensive deshalb in eine Position der Stärke manövrieren, in der sie auch in möglichen späteren Verhandlungen gute Karten hat", sagt Gressel. Es sei aber naiv anzunehmen, dass mit einer einzelnen Offensive die Grenzen von 1991 wieder erreichbar seien oder man den Russen klarmachen könne, dass sich ein Angriffskrieg nicht lohnt.
Experte: Kein Ende des Ukraine-Krieges in 2023
"Es wird daher auch sicherlich nach der Offensive weitere militärische Aufgaben geben", schätzt Gressel. Prognosen, wie es nach einer Offensive weitergehen könnte, seien allerdings unseriös. "Man kann jetzt nicht absehen, wo die Front steht und wie die Materialausstattung aussieht", so Gressel. Wie beim Wetter könne man seriös nur kurzfristig schauen.
Der Experte glaubt nicht, "dass es dieses Jahr noch zu einem Ende des Krieges kommen wird." Die Aussage des ukrainischen Militärgeheimdienstes, ein Sieg sei bis Jahresende möglich, hält er daher für psychologische Kriegsführung, um die Russen nervös zu machen.
"Im schlechten Fall kommt die Offensive nicht weit, im guten Fall kann die Ukraine eine oder anderthalb Oblaste zurückgewinnen – zum Beispiel Cherson und Saporischja", ist seine Einschätzung. Dann blieben aber immer noch Donezk und Luhansk: "Dort ist das Gelände schwierig, die russischen Kräfte sind stark und man müsste sich noch einmal für eine Gegenoffensive aufbauen."
Neue Mobilisierung durch Putin?
Viel hänge auch von den Reaktionen Putins ab. "Er könnte noch mal in eine Runde der Mobilmachung gehen, dann hätten wir noch mal einen Winter, in der die Ukraine russische Offensiven abwehren muss, bis sie die Möglichkeit zu Gegenschlägen bekommt", sagt der Experte.
Aus seiner Sicht herrscht im Westen zu wenig Entschlossenheit, die Ukraine militärisch auch mit Sicherheitsreserven auszustatten. Man müsse zeigen, dass man nicht nur ein Minsk III im Blick habe, sondern wirklich einen ukrainischen Sieg.
Putin sei auch ein scheibchenweises Zerstückeln der Ukraine recht – selbst, wenn das zunächst einen Waffenstillstand bedeutet, der ihm Gelände- und Gebietsgewinne zusichert. Aus Gressels Sicht ist Vorsicht geboten: "Putin kann dann Pause machen, sich neu formieren, die Armee neu aufrüsten und versuchen in der nächsten Runde zu bekommen, was er will."
Unterschätzte Gefahr: Der Westen ist mehr gefordert
Im Westen unterschätze man noch immer die langfristige Problematik, die der Krieg aufgerissen habe. "Man gibt sich zu leichtfertig der Illusion hin, man könnte das Ganze schnell beenden", warnt Gressel. Putin habe sich in den Krieg verbissen und seinen Machtanspruch damit verbunden. "Ein Ausstieg daraus wäre für ihn nicht so einfach möglich", ist sich der Experte sicher.
Im Westen müsse die Unterstützung nach dem Klingelbeutel-Prinzip deshalb aufhören. "Putin rechnet sich aus, den Westen im Laufe der Jahre zu erschöpfen. Es braucht deshalb einen konzentrierten, rüstungs-industriellen Ansatz", fordert Gressel.
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