Seit 2014 besetzt Russland bereits mehrere Gebiete in der Ukraine und hat schon zu dieser Zeit damit begonnen, die Identität des Landes auszulöschen. In den annektierten Gebieten, die seit der Invasion 2022 dazukamen, will man den Menschen die eigene Geschichte und Kultur nun gänzlich austreiben – durch Zwang, durch Verbote, durch Folter.
"Wenn man dort lebt, scheint es, als würde man ein normales Leben führen. Aber man kann seine Gedanken nicht äußern, es gibt Themen, über die man nicht sprechen kann, man kann nicht hingehen, wo man will. Man lebt wie eine Spinne in einem Glas." Diese Beschreibung stammt von einer Ukrainerin, die monatelang unter russischer Besatzung in der Region Saporischschja gelebt hat. Geteilt hat sie ihre Erfahrungen mit einem Team aus europäischen Journalistinnen und Journalisten, die für das Portal "Eurovision News" investigativ recherchiert haben.
Ludmila (Name geändert) berichtet über Hoffnungslosigkeit, über Enttäuschung. Darüber, dass es Menschen, die weiterhin auf Rettung warten, schwer haben werden. "Es ist schwer für die Moral", sagt sie dem Portal. Über die Ukraine zu sprechen sei verboten, genauso wie das Besitzen oder Zeigen ukrainischer Symbole. "Wenn du etwas hörst oder sagst, was sie für falsch halten, schnappen sie dich und sperren dich in einen Keller."
Vier ukrainische Oblaste von Besatzung betroffen
Russland begann bereits 2014 mit der Besetzung der Halbinsel Krim und Teilen der beiden Oblaste Luhansk und Donezk im Osten des Landes. Von Beginn an war es das Ziel, die ukrainische Kultur und Identität auszulöschen. Seit der Invasion im Jahr 2022 hat Moskau rund 18 Prozent des ukrainischen Territoriums okkupiert – erstreckt über vier Oblaste: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Mit Scheinreferenden und der Besetzung hoher Ämter durch prorussische oder russische Beamte will das Land die Fremdherrschaft legitimieren und eigene Gesetze durchdrücken.
Der US-amerikanische Journalist David Lewis schreibt in dem Journal "Foreign Affairs": "Ein Heer von Technokraten überwacht die vollständige Übernahme dieser Gebiete, gleicht ihre Gesetze, Vorschriften, Steuer- und Banksysteme an Russland an und beseitigt alle Spuren institutioneller Bindungen an die Ukraine." Die besetzten Territorien werden in der Russischen Föderation als "Neue Gebiete" bezeichnet.
Im Jahr 2020 hat die Politikwissenschaftlerin Mariia Shynkarenko die Krim besucht, um zu erforschen, wie Moskau die ukrainische Identität auszulöschen versucht. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programm "Ukraine im Europäischen Dialog" am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien beschäftigt sie sich grundsätzlich mit der Frage der Identität, des Widerstands und der Indigenität der Krimtataren in der Ukraine.
Die Krim: "Disneyland der sowjetisch-russischen Nostalgie"
In ihrem Bericht wird deutlich, auf welchen Ebenen Russland die Krim und ihre noch verbliebenen ukrainischen Einwohner indoktriniert: Sowohl auf infrastruktureller als auch auf sozialer und visueller Ebene, schreibt Shynkarenko, kolonisiert Russland die Krim und unterdrückt jeglichen Ausdruck ukrainischer Identität. Es werden Häuser und Straßen gebaut, Bahntrassen, Brücken und neue Fabriken. All diese Infrastrukturprojekte sollen demnach die russische Herrschaft festigen, die Loyalität der Bevölkerung sichern und den Raum generell als russisch darstellen.
Investitionen in die soziale Infrastruktur zielen laut der Expertin zwar darauf ab, die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen, schaffen aber gleichzeitig Orte für die Überwachung und Verbreitung russischer Propaganda. "Insbesondere über die Schulen und die Kontrolle der Lehrpläne ist Russland bestrebt, Kinder und ihre Eltern in die 'russische Welt' zu integrieren", schreibt sie.
Auf der visuellen Ebene investiere Moskau vor allem in die Zurschaustellung russischer Helden. Denkmäler, Kriegspropaganda und Geschichtsrevision – laut Shynkarenko haben all diese visuellen Materialien die Krim zu einem "Disneyland der sowjetisch-russischen Nostalgie gemacht". Alles, was an die Ukraine erinnern könnte, sei entfernt oder übermalt worden.
Ähnliche Berichte gibt es aus den anderen besetzten Gebieten der Ukraine. Das neue große Prestigeprojekt ist die im Jahr 2022 eroberte Stadt Mariupol. Hier investiert Moskau derzeit massiv in den Wiederaufbau, setzt russische Beamte oder Kollaborateure ein, baut eine neue Eisenbahnlinie, die Mariupol noch schneller von Russland aus erreichbar machen soll.
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UN: Russland schafft Klima der Angst
All dies ist noch die sanfte Art, wie Moskau vorgeht, um die Menschen umzuerziehen. Die Art, von der die betroffene Ukrainerin Ludmila aus Saporischschja berichtet, zielt auf Angst und Unterdrückung ab. Im März dieses Jahres veröffentlichte das UN-Menschenrechtsbüro einen Bericht über die Situation der Menschen unter der Besatzungsmacht.
Demzufolge hat die Russische Föderation in den besetzten Gebieten der Ukraine ein "erstickendes Klima der Angst geschaffen und in dem Bemühen, ihre Kontrolle über die dort lebende Bevölkerung zu festigen, zahlreiche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte begangen".
Die Rede ist von willkürlichen Verhaftungen von Zivilisten, von Folter und Misshandlung, vom Verschwinden einzelner Personen. Zunächst seien etwaige Maßnahmen nur gegen jene Menschen eingesetzt worden, die als Bedrohung wahrgenommen wurden. Doch schnell habe man diese Willkür gegen alle gerichtet, die man als Gegner der Besatzung angesehen habe.
Friedliche Proteste würden gewaltsam niedergeschlagen, die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, Häuser und Geschäfte geplündert. Selbst die Bewegungsfreiheit unterliege der Unterdrückung der Besatzer. Das ukrainische Internet- und Telefonnetz hat Moskau ausgeschaltet, nur russische Radio- und Fernsehkanäle sind noch erreichbar. All das zielt darauf ab, den Menschen den Zugang zu unabhängiger Information zu verwehren – nur noch die russische Staatspropaganda strahlt durch die Lautsprecher und Bildschirme der angeblichen "Neuen Gebiete".
Rubel als offizielle Währung aufgezwungen
Jeglicher Ausdruck ukrainischer Identität soll verschwinden – das zeigt sich auch dadurch, dass innerhalb kurzer Zeit der Rubel als Währung eingeführt wurde und Druck ausgeübt wird, einen russischen Pass anzunehmen. Wer sich dem nicht fügt, muss damit rechnen, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, das heißt: Man kann sich nicht mehr frei bewegen, Mitarbeiter im öffentlichen Sektor werden gekündigt, Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung werden gestrichen.
Laut dem Leiter der ukrainischen Militärverwaltung der Luhansk-Region sollen nun wohl sogar Neugeborene von ihren Eltern getrennt werden, wenn nicht mindestens ein Elternteil die russische Staatsbürgerschaft vorweisen kann.
Zusätzlich fördern die Besatzungsmächte eine Denunziationsgesellschaft, um jeglichen Widerstand so schnell es geht zu unterdrücken. Wer eine "nicht-russische" Meinung äußert, hat mittlerweile grundsätzlich Angst vor Nachbarn und engen Freunden.
"Die Maßnahmen der russischen Föderation haben das soziale Gefüge von Gemeinschaften zerrissen und Einzelpersonen isoliert, was tiefgreifende und langfristige Folgen für die ukrainische Gesellschaft hat", so drückt es Volker Türk aus, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte.
Verwendete Quellen
- spiegel.de: Russland baut sich neue Bahnstrecke nach Mariupol
- investigations.news-exchange.ebu.ch: Russification in Occupied Ukraine
- foreignaffairs.com: The Quiet Transformation of Occupied Ukraine
- wilsoncenter.org: Taking Stock: A Decade of Russia’s Occupation of Crimea
- ukraine.un.org: UN REPORT DETAILS ‘CLIMATE OF FEAR’ IN OCCUPIED AREAS OF UKRAINE, AS THE RUSSIAN FEDERATION MOVES TO CEMENT CONTROL
- telegram.com: Update auf Telegram-Kanal von Artem Lysogor
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