In Straßburg kommt das neugewählte EU-Parlament erstmals zusammen. Es ist ein anderes als noch vor fünf Jahren. Denn in der Europäischen Union sind rechtsextreme Positionen so erfolgreich wie noch nie seit der Gründung.

Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Katharina Ahnefeld. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Für die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Terry Reintke, gibt es eine feste Umarmung. Ursula von der Leyen ist an diesem Donnerstag mit 401 Stimmen erneut zur Kommissionspräsidentin der Europäischen Union gewählt worden. Auch dank der Unterstützung von Reintkes Fraktion. Die stellte sich, anders als vor fünf Jahren, hinter von der Leyen. "Ich bin sehr dankbar", sagt die erneut gewählte Kommissionschefin im Anschluss der Presse.

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Ihr bisheriges Dreiergestirn aus konservativer EVP, liberaler Renew und Sozialdemokraten besitzt zwar die Mehrheit, jedoch nur eine knappe. Ohne die Grünen geht bei dieser Wahl nichts, zumindest, wenn man nicht auf Hilfe von Rechtsaußen angewiesen sein will. Für die Öko-Partei wiederum ist eine "Mehrheit der pro-demokratischen Fraktionen im Parlament" entscheidend, wie Reintke in der Aussprache kurz vor der geheimen Wahl betont. Auch wenn das bedeutet, in diesem Moment bei grünen Leitlinien zurückzustecken.

Und so fiel am Ende das Ergebnis für die sichtbar erleichterte Christdemokratin sogar besser aus als vor fünf Jahren. 361 Stimmen hätte sie mindestens gebraucht, 40 Stimmen mehr hat sie bekommen. Zum Vergleich: 2019 waren es nur neun Stimmen mehr als erforderlich.

Rechtsruck in Europa: Die Mitte im EU-Parlament muss enger zusammenrücken

Der Grund dafür ist leicht zu finden – und kein Grund zur Freude. Angesichts der Zugewinne rechter Positionen steht die Demokratie in der Europäischen Union unter Druck. Für die Mitte-Parteien bedeutet das ein Zusammenrücken, über teils große Differenzen hinweg.

In den vergangenen Tagen wurde im Hintergrund hart an einem Schulterschluss gearbeitet. Ein Vorgeschmack auf die kommenden fünf Jahre. Denn diese sogenannte pro-europäische Mehrheit gilt es angesichts destruktiver und dezidiert anti-europäischer Kräfte zu halten.

Einen Vorgeschmack der anderen Art bekommen Abgeordnete, Presse und Besucher während der Aussprache im Parlament. Ein Mitglied der neu gegründeten rechtsnationalistischen "Patrioten"-Fraktion sorgt für Aufregung. Das Szenario: Geschrei, Hochhalten eines Mutter-Gottes-Bildes, Schwenken einer Mülltüte und Tragen eines Maulkorbs.

Am Ende muss die Abgeordnete nach mehrfacher Ermahnung des Saales verwiesen werden. Auch mit solchen Szenen gilt es von nun an umzugehen.

Natürlich ist die erste Sitzungswoche nach einer EU-Wahl schon so etwas Besonderes. Neue Abgeordnete ziehen in das Parlament ein, die wichtigsten Ämter werden vergeben und Stühle werden gerückt. Vor fünf Jahren lag zu diesem Zeitpunkt Vorfreude in der Luft. Doch dieses Parlament ist ein anderes.

Mit der Wahl am 9. Juni sind zahlreiche Abgeordnete des rechtsextremen Spektrums gewählt worden, die diese Institution ab jetzt prägen werden. Der Rechtsruck in Europa? Zumindest hier in Straßburg ist er spürbar.

Grünen-Politikerin Reintke warnt vor Gefahr durch rechtsextreme Fraktion

Das sagt auch Terry Reintke unserer Redaktion: "Die Atmosphäre ist jetzt eine andere, wenn man durchs Parlament geht. Man sieht, wie hoch der Anteil an rechtsextremen Abgeordneten inklusive der Mitarbeitenden ist. Konkret heißt das: Wir müssen uns auf einen prorussischen Ton gefasst machen, schrille destruktive Störmanöver, auf Blockieren von Klimaschutz, sozialen Rechten, Frauenrechten, LGBTI-Rechten." Auf Abgeordnete, die künftig eindeutig gegen die EU agieren werden.

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Die Grünen-Politikerin sieht die EVP in der Verantwortung. "Bei uns Grünen, den Sozialdemokrat*innen und den meisten Liberalen steht die Brandmauer nach rechts stabil. Der EVP unter Manfred Weber kommt jetzt die Aufgabe zu, Teil dieser demokratischen Verantwortungsgemeinschaft zu sein. Die Mitte aus vier Fraktionen hat gerade die EVP-Kandidatin Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin wiedergewählt. Dank der Stimmen von uns Grünen, nicht denen von Giorgia Melonis Fratelli aus der EKR-Fraktion", betont sie.

SPD-Europapolitiker Jens Geier berichtet im Gespräch mit unserer Redaktion ebenfalls von einer veränderten Atmosphäre im Vergleich zum alten Parlament: "Sitzen bleiben bei der Hymne. Ausschlussanträge gegen eine linke Abgeordnete. Rumschreien und Hochhalten von Ikonen gegen das 'teuflische Parlament' - wir kriegen gleich zu Anfang eine Menge geboten. Insofern schwankt die Atmosphäre zwischen konstruktiver Zusammenarbeit bei den demokratischen Fraktionen und Fassungslosigkeit bis Empörung über die Show, die die Faschisten hier aufführen", sagt der Abgeordnete unserer Redaktion. Und ergänzt: "Mit den beiden Rechtsaußen-Fraktionen 'Europäische Patrioten' und 'Europa der souveränen Nationen' ist keine Zusammenarbeit möglich." Die hätten daran aber auch kein Interesse, sondern würden das Plenum des Europäischen Parlaments als Bühne für ihre Propaganda betrachten.

Somit wird es in den kommenden fünf Jahren die Herausforderung der pro-demokratischen Mitte sein, eine stabile Mehrheit zu halten und sich angesichts der Rechten nicht gegenseitig zu blockieren. Auch wenn das bedeutet, bei eigenen Herzensthemen zurückstecken zu müssen. Denn, so warnt Terry Reintke: Es besteht die reale Gefahr, dass die EKR-Fraktion die beiden rechtsextremen Fraktionen wie ein U-Boot als Mehrheitsbeschaffer an Bord holt - wobei die EKR-Fraktion diesen Vorwurf zurückweist.

Die Wahl von Ursula von der Leyen ist damit auch eine Entscheidung für Stabilität und Kontinuität in Zeiten von Polykrisen.

Verwendete Quellen

  • Vor-Ort-Recherche in Straßburg
  • Gespräche mit Terry Reintke und Jens Geier
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