Wer steckt hinter dem Militärputsch in der Türkei? Während für den türkischen Präsidenten Erdogan klar ist, dass sein ehemaliger Weggefährte und heutige Intimfeind Fethullah Gülen die Fäden gezogen hat, geben Beobachter eines zu bedenken: Dass Recep Tayyip Erdogan am Ende wohl am meisten von dem Umsturzversuch profitiert.

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Allem Anschein nach haben Teile des türkischen Militärs versucht, die Regierung in Ankara zu stürzen. Mit verheerenden Folgen: Der Putschversuch hat mehr als 260 Tote und mehr als 1.000 Verletzte gefordert.

Dazu hat er zu mehr als 6.000 Verhaftungen geführt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nennt den Putschversuch ein "Geschenk Gottes", kündigte "Säuberungen" an und will nun laut eigener Aussage das "Gülen-Geschwür" beseitigen. Fethullah Gülen, islamischer Geistlicher und in Erdogans Augen Drahtzieher des Putsches, beteuert derweil seine Unschuld.

Doch welche Aussagen stimmen nun – und wer könnte hinter dem versuchten Regierungssturz stecken? Wir haben drei Theorien beleuchtet.

Theorie1 : Ausgebootete Militärs ziehen die Fäden

So lautet die momentan offizielle Theorie. "Das türkische Militär hat sich selbst immer als Gralshüter des Kemalismus (eine Ideologie des Türkei-Gründers Mustafa Kemal Atatürk, die unter anderem die Trennung von Staat und Religion propagiert; Anm.d.Red.) verstanden. Die Regierungspartei AKP und Erdogan streben das genaue Gegenteil an", erklärt Prof. Thomas Jäger, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Uni Köln in einem Gespräch mit unserer Redaktion.

Da sich das Militär traditionell für die Trennung von Staat und Religion einsetzt, Erdogan aber genau diese Trennung aufheben will und das Militär deswegen in den letzten Jahren massiv unter Druck gesetzt und Kurs-Korrekturen vorgenommen hat, spräche das für einen Putsch seitens des Militärs. Als Chef der Putschisten in der Türkei gilt nach Ansicht der Regierung in Ankara Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk. Dieser bestreitet jedoch jegliche Beteiligung an einem Umsturzversuch.

Was jedoch verwundert: "Bei diesem Putschversuch sind enorme Fehler gemacht worden", sagt Jäger. Es sei zwar immer so, dass derartige Pläne nur einem kleinen Zirkel bekannt sein dürfen, weil ansonsten das Überraschungsmoment verloren ginge. Doch müsste im frühen Verlauf eines Putsches der Rest der Streitkräfte für die Sache gewonnen werden.

"Hierzu wurden, soweit das bekannt ist, keine Anstrengungen unternommen. Und das ist sehr ungewöhnlich", erklärt der Politologe.

Theorie 2: Die Hizmet-Bewegung steckt dahinter

So lautet Erdogans Theorie. Die Hizmet-Bewegung ist eigenen Angaben zufolge eine Gemeinschaft von Menschen, die versuchen, soziale Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Dabei werde sie von den Ideen von Fethullah Gülen inspiriert.

In Deutschland gerät die Bewegung immer wieder in die Kritik. Man wirft ihr vor, sich mit Zielen wie Bildungsarbeit und interreligiösem Dialog zu schmücken. Manche vermuten jedoch, sie verfolge in Wirklichkeit eine islamisch-nationalistische Agenda.

"Immer wenn in der Türkei ein Feind benötigt wird, ist es Fethullah Gülen", sagt Jäger. Dabei seien sich Gülen und Erdogan in ihrer Meinung zum Kemalismus einig. Gülens Hizmet-Bewegung sei Erdogan vor allem deshalb ein Ärgernis, weil sie auf der Basis einer islamischen Lehre ein großes Netzwerk aufgebaut habe.

"Ihr gehören viele Millionen Menschen an, und diese sind eben auch in der türkischen Bürokratie und im Militär", erklärt Jäger. Zur Absicherung ihrer Herrschaft und der damit einhergehenden lukrativen Korruption strebe die AKP an, alle Gülen-Anhänger aus den staatlichen Bereichen zu verdrängen.

Was unklar ist: Ob es Verbindungen zwischen der Hizmet-Bewegung und den Putschisten gibt. Die türkische Regierung bejaht, Gülen verneint.

Doch dabei geht es noch um eine weitere Schwierigkeit: "Problematisch daran ist, dass der in den USA lebende Gülen nun nach dem Willen der türkischen Regierung an die Türkei ausgeliefert werden soll. Alles andere würde man dort als feindlichen Akt betrachten. Das hat das Verhältnis der USA zur Türkei schon beschädigt", erklärt der Politologe. US-Außenminister John Kerry warnte, die Türkei setze ihre Nato-Mitgliedschaft aufs Spiel.

Theorie 3: Erdogan hat den Putsch selbst initiiert

So lautet Gülens Theorie. "Erdogan ist der Gewinner des Putsches. Er kann nun die ohnehin nicht mehr unabhängige Justiz zu einem reinen Marionetten-Instrument umbauen", erklärt Jäger. Der türkische Präsident habe nun die Möglichkeit, alle kritischen Stimmen unter der Drohung, es handle sich hierbei um geistige Terroristen, wegsperren. "Das Land wird tief gespalten", prophezeit der Politologe.

Was problematisch sei: "Gleichzeitig wurde er von unbedachten Äußerungen aus dem Ausland sogleich als Retter der Demokratie gefeiert. Zur Stärke im Inneren kommt somit auch noch die starke Legitimation von außen."

Laut Jäger ist es schwer zu sagen, ob Erdogan diesen Putschversuch selbst initiiert hat - er hält es jedoch nicht für unmöglich. Was manche Beobachter erstaunt hat: Erdogan hat blitzschnell eine Liste mit Tausenden von nun inhaftierten Richtern, Staatsanwälten und Soldaten vorgelegt. Für den Politologen kein Wunder: "Er kannte diejenigen, die ihm nicht bedingungslos folgten." Nun gebe es eine Gelegenheit, sie loszuwerden.

Welche der drei Theorien ist für Jäger die wahrscheinlichste? "Nicht nur in Kriegen, auch bei Putschen ist das erste Opfer die Wahrheit. Wer wissen will, was wirklich geschehen ist, wird sicher noch einige Zeit beobachten und forschen müssen", sagt der Politologe.

Thomas Jäger ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Uni Köln. Er gehört dem wissenschaftlichen Direktorium des Instituts für Europäische Politik und dem wissenschaftlichen Beirat des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr an. Zudem ist Jäger Herausgeber der "Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik".
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