• Seit zwei Monaten wird der Iran von Protestwellen erschüttert. Die staatliche Führung geht mit Gewalt gegen die Demonstranten vor, doch ihr entgleiten die Zügel mehr und mehr.
  • Werden die Eliteeinheiten im Militär die Gunst der Stunde nutzen und das Machtvakuum füllen?
  • Mehrere Experten sehen die Möglichkeit einer Militärdiktatur und erklären, was das bedeuten würde.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die systemkritischen Proteste im Iran halten weiter an: Noch immer gehen Bilder von tausenden Demonstranten, die gegen die autoritäre Regierung des Staates protestieren, um die Welt. Laut Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sollen bereits über 400 Menschen gestorben und rund 18.000 verhaftet worden sein. Mitte November wurde im Zusammenhang mit den Protesten auch Todesstrafen verhängt.

Ausgelöst worden waren die Proteste bereits im September durch den Tod von Mahsa Amini, die in Folge von Polizeigewalt starb. Die junge Iranerin war von der islamischen Sittenpolizei festgenommen worden, weil sie gegen die Kleiderordnung verstoßen haben soll. Bei den anschließenden Protesten nahmen Demonstrantinnen bewusst ihre Kopftücher ab, verbrannten sie oder schnitten sich in der Öffentlichkeit ihre Haare ab. Wie Amnesty International berichtet, lautet der staatliche Befehl, den Protesten mit aller Härte zu begegnen.

Expertin warnt vor Militärdiktatur

Die Entschlossenheit der Demonstranten, die weltweite Solidarität erfahren, wurde auch durch die Gewalt der Sicherheitskräfte nicht gebrochen. Die iranische Führung macht derweil das Ausland für die Proteste verantwortlich. Die Demonstranten seien von Irans Feinden, namentlich den USA, Deutschland und Frankreich, angestiftet worden.

Eine Expertin warnte nun, die Revolutionsgarden könnten von der Lage profitieren und einen Militärputsch unternehmen. Die Revolutionsgarden sind die Elite der Streitkräfte. Sie spielen bei der Zerschlagung von Protesten sowie bei Festnahmen von Demonstranten eine zentrale Rolle. Im Interview mit der Deutschen Presseagentur (dpa) sagte die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur von der Universität zu Köln: "Die Pasdaran, die Revolutionsgarden, könnten dieser Theokratie ein Ende bereiten." Sie seien jedoch nicht gewillt, eine Demokratie aufzubauen.

"Das wäre dann eine Militärdiktatur", so Amirpur weiter. Das Land steuere bereits seit Jahren in diese Richtung. Nun könnte die Stunde für die einflussreichen und regimetreuen Revolutionsgarden geschlagen haben, die Unzufriedenheit gegenüber der klerikalen Elite zu nutzen.

Duale Struktur im Militärapparat

"Die zunehmende Rolle der Streitkräfte sehe ich auch", bestätigt ein Iran-Experte im Gespräch mit unserer Redaktion. Da er aktuell durch den Mittleren Osten reist, möchte er aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. "Der Iran hat eine duale Struktur in seinem Militär- und Geheimdienstapparat. Das muss man beim iranischen Kontext stets mitbedenken", erinnert er. Die iranische Armee und die Revolutionsgarden sind zwei verschiedene militärische Organe. Während die Armee aus Angst vor einem Putsch in der Vergangenheit immer weiter geschwächt wurde, ist der Einfluss der Revolutionsgarden stetig gewachsen.

"Eine Rolle des Militärs wie etwa in Ägypten, Pakistan oder Myanmar ist deshalb undenkbar", meint der Experte im Gespräch mit unserer Redaktion.

In Ägypten unterstützte der Oberste Rat der Streitkräfte beim Arabischen Frühling die Revolution. Die Demonstranten forderten damals demokratische Wahlen und den Rücktritt von Präsident Husni Mubarak. Im Iran besteht ein solcher Gegensatz zwischen Revolutionsgarden und Mullahregime jedoch nicht. Die Pasdaran unterstützen und verteidigen das theokratische Regime.

Einfluss der Streitkräfte hat zugenommen

"Der Einfluss der Streitkräfte Irans nimmt sicherlich seit Jahren zu. Aber dieser ist eng verknüpft und koordiniert mit den politischen und klerikalen Eliten", beobachtet auch der Iran-Experte, mit dem unsere Redaktion gesprochen hat. Auch in der iranischen Wirtschaft hat der Einfluss der Revolutionsgarden zugenommen.

Was man wissen muss: Der Iran hat eine "offizielle" Regierung, die sich um die tagtäglichen Angelegenheiten des Landes kümmert, und eine Schattenregierung. Diese wird vom geistlichen Oberhaupt des Landes, Ali Chamenei, geleitet und trifft nicht nur strategische Entscheidungen, sondern kontrolliert auch die Revolutionsgarden und die Armee.

Die Revolutionsgarden werden von Chamenei als Machtinstrument genutzt und kommen bei Kritikern, Oppositionellen und, wenn notwendig, auch gegen die Marionetten-Regierung zum Einsatz. Ein möglicher Putsch durch die Revolutionsgarden gegen die offizielle Regierung ist also nur auf Befehl von Chamenei denkbar.

Ende der Protestwelle in Sicht?

"Eine weitere Zunahme der Bedeutung des Militärs in der iranischen Politik würde zu einer noch autoritäreren Regierungsform führen", schätzt der Experte. Andererseits sei aber nicht auszuschließen, dass gerade diese Personen aus machtpolitischen Überlegungen heraus mehr soziale und kulturelle Freiheiten zuließen. "Im Sinne eines liberalen Autoritarismus", führt er aus.

Solange sich die ökonomischen und politischen Lebensbedingungen im Iran nicht merklich änderten, sieht der Experte jedoch kein Ende der Protestwelle. "Es wird dann immer wieder Zyklen von Protesten geben", sagt er. Er meint jedoch, dass die Proteste diesmal auf politischer Ebene etwas bewirken können, sodass sich wirklich etwas ändert. "Die Zukunft wird zeigen, ob das ausreicht, um weitere Protestwellen zu vermeiden", sagt er.

Expertin meint: Revolutionsgarden brauchen nicht zu putschen

Islamwissenschaftlerin Amirpur hatte sich im Interview mit der dpa skeptischer gezeigt, was das Einlenken der Staatselite angeht. Die aktuellen Machthaber hätten eine historische Lektion gelernt: Ihr eigener Weg an die Spitze sei nur möglich gewesen, weil der Schah irgendwann zu Zugeständnissen bereit gewesen ist.

"Diese Zugeständnisse waren es dann, die das System zum Einsturz gebracht haben. Weil die Revolutionäre sahen: Wir können ja tatsächlich etwas erreichen", sagte die Expertin. Das Regime fürchte deshalb mit Blick auf die Protestierenden: "Sobald sie auch nur den kleinen Finger kriegen, wollen sie die ganze Hand."

Auch die regimekritische politische Analystin Farzaneh Roostaee schreibt in einem Kommentar, die Revolutionsgarden bräuchten sich nicht an die Macht zu putschen. "Sie können durch manipulierte Wahlen und direkte und indirekte Einflussnahme als Drahtzieher politischer und wirtschaftlicher Angelegenheiten agieren, ohne eine militärische Regierung wie beispielsweise in Ägypten aufstellen zu müssen". Sie können mit ihren Einflussmöglichkeiten jegliche Protestbewegung flächendeckend und systematisch niederschlagen, sobald sie die kleinste Gefahr spüren, sagt Roostaee.

Über den Experten: Der Experte, mit dem unsere Redaktion für diesen Beitrag gesprochen hat, möchte aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden.

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Verwendete Quellen:

  • Deutsche Presseagentur (dpa)
  • Gespräch mit einem aus Sicherheitsgründen ungenannten Iran-Experten
  • Iranjournal: Ein Militärregime als Alternative zur Islamischen Republik?
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