11.000 Flüchtlinge kommen täglich nach Österreich. Die meisten wollen weiter nach Deutschland. Von den Zuständen dort macht sich "ORF"-Journalistin Beate Haselmayer ein Bild. Sie trifft auf Überforderung, Schuldzuweisungen, skeptische Bürger und Menschen am Ende ihrer Kräfte.
"Die Lage war lebensbedrohlich. Wenn das Zelt nicht gestanden hätte, hätten wir tote Kinder von der Wiese getragen." Lothar Venus spricht sachlich, aber energisch ins Mikrofon. Der Kreisbrandmeister ist im Dauereinsatz in Bayern, nah an der Grenze zu Österreich. Journalistin Beate Haselmayer spricht mit ihm. Sie hat sich aufgemacht und will die Zuschauer der ORF-Sendung "Thema" teilhaben lassen an den Zuständen am Nadelöhr zwischen dem bayerischen Wegscheid und dem oberösterreichischen Kollerschlag. Sie möchte sie mitnehmen, unter dem Titel "An der Grenze - Flüchtlinge, Behörden und Helfer unter Druck" und zeigen, wie es Asylsuchenden und ehrenamtlichen Helfern vor Ort ergeht. Welche Bedenken die Anwohner haben, welche Sorgen die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien haben. Die Reporterin zeigt auf, dass sich die Behörden vor Ort gegenseitig die Schuld zuschieben.
Viele kommen zu Fuß über die Grenze
Die Fakten gibt’s vorneweg: 11.000 Flüchtlinge kommen täglich nach Österreich, etwa sieben Prozent davon stellen einen Asylantrag. Für die meisten geht die Reise weiter nach Kollerschlag. Sie möchten nach Deutschland. 1.500 Einwohner hat die Gemeinde. Etwa doppelt so viele Flüchtlinge kommen pro Nacht im kleinen Grenzort an. Sie sollen nicht per Bus, sondern zu Fuß über die Grenze. Die Folge: Rückstaus. Bis zu zehn Stunden müssen die Menschen an der Grenze verharren, nachts in Eiseskälte. Alle Seiten kommen zu Wort.
"Wo Krieg ist, möchte ich auch nicht bleiben", schildert ein ein Einwohner von Kollerschlag die Lage. Ein anderer ärgert sich über die dunkel vermummten, mutmaßlich muslimischen Flüchtlinge. Es wird drastisch. Kollerschlags Bürgermeister Franz Saxinger fordert, "dass der Überfall auf unseren Ort ein Ende nimmt". Die Überforderung kommt zum Ausdruck, aber auch der offenbare Verdruss darüber, sich bei dieser Herkulesaufgabe allein gelassen zu fühlen. Nicht nur das Zitat Saxingers lässt auf eine vereinzelte Ablehnung schließen. "Man macht sich große Sorgen um die eigene Zukunft und die unserer Kinder", sagt eine Bürgerin aus Wegscheid, die in einer grenznahen Gaststätte interviewt wird. Eine jüngere Frau bemüht ein altbekanntes Klischee: "Sie könnten uns die Jobs wegnehmen."
"Einfach nur in Frieden leben"
Die Ankommenden haben andere Bedenken. Haselmayer spricht mit dem Jungen Bada Aldawani und dessen Onkel, der im Rollstuhl sitzt. Er will nur noch nach Deutschland, endlich eine vernünftige medizinische Versorgung gegen seine Wirbelverletzung bekommen. Warum unbedingt Deutschland? Haselmayer interviewt Rurchan Nassar Khalil. Sie hat Angst um ihren Sohn. "Seine Lunge hört sich nicht gut an", erzählt sie und, dass sie "einfach nur in Frieden leben" will. Ihr Ehemann antwortet konkret auf die Frage. "Deutschland hat gesagt, dass sie uns Syrer aufnehmen wollen", meint er und spielt auf Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel an. "Wir schaffen das", hatte die deutsche Regierungschefin zu Beginn der Flüchtlingskrise gesagt.
An der Grenze fühlen sich die ehrenamtlichen Helfer aber meist allein gelassen. Auch das zeigt der Beitrag der "Thema"-Sendung eindrucksvoll. Paul Erhard, ein Arzt vor Ort, schildert: "Es heißt immer, wer zahlt das und was kostet das." Der Mediziner zeigt auf ein großes, beheiztes Zelt. Noch Ende Oktober seien die Asylsuchenden samt Kindern unter freiem Himmel auf dem Boden gelegen, erzählt Kreisbrandmeister Venus. Doch wer trägt Schuld an diesem vermeintlichen Versagen der Behörden? Jeder reicht sie weiter. Das wird deutlich.
Haselmayer arbeitet journalistisch gründlich, konfrontiert jede Seite mit den Vorwürfen der jeweils anderen. Josef Lamperstorfer, Bürgermeister von Wegscheid, bezeichnet das, was auf der österreichischen Seite passiert als "humanitäre Katastrophe". David Furtner von der Landespolizeidirektion Oberösterreich verneint das und sagt in Richtung der Deutschen, sie würden die Rückstaus verursachen. Der Schlagabtausch zwischen den Regierungen ist offenbar längst an der Basis angekommen. Lamperstorfer möchte mit all dem am liebsten nichts mehr zu tun haben. So wirkt es. Er sagt weiter: "Die Sache hier ist umsonst".
Die Situation könnte man durch ein einfaches Durchleiten der Busse zu den Aufnahmezentren human wegbekommen. Dann wären die Rot-Kreuz-Kräfte auch dort verfügbar." Was bleibt? Das Eigeninteresse überwiegt auf beiden Seiten, so viel ist klar. Und offenbar auch die Neigung, sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen. Mittlerweile sind Helfer und Behörden vor Ort besser für den Ansturm gewappnet. Abhilfe sollen nun die von der deutschen Bundesregierung angekündigten "Transitzonen" schaffen. Bis dahin bleiben Wegscheid und Kollerschlag im Ausnahmezustand. Nicht auszudenken, wären in der Kälte tatsächlich Menschen gestorben.
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