Das Nationalarchiv der Niederlande stellt eine Liste mit Namen von Hunderttausenden möglichen Nazi-Kollaborateuren online und hat damit eine emotionale Debatte ausgelöst. Ermöglicht der Schritt einen ehrlichen Blick in die Geschichte des Landes? Oder sind die Daten zu sensibel, um veröffentlicht zu werden?

Mehr aktuelle News

Ob ihr Opa oder die Großtante im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierte, können Niederländer jetzt im Internet erfahren: Das Nationalarchiv in Den Haag stellte eine Liste mit den Namen von 425.000 Verdächtigen online.

"Ich denke, es ist eine sehr gute Sache", sagt die Autorin Stephanie Biesheuvel, die ein Buch über die Nazi-Vergangenheit ihrer Familie geschrieben hat. "Wir können uns beim Blick auf unsere Geschichte nicht nur auf die Erzählungen vom Widerstand beschränken."

Ein dunkles Kapitel der niederländischen Geschichte

Die Niederlande wurden während des Zweiten Weltkriegs von Nazi-Deutschland besetzt. Viele Niederländer leisteten Widerstand, viele arbeiteten aber auch mit den Besatzern zusammen.

30 Millionen Seiten über dieses dunkle Kapitel der niederländischen Geschichte lagern in Den Haag. Ende 2024 lief ein Gesetz aus, das den Zugang zu den Dokumenten beschränkte. Das Nationalarchiv und mehrere Organisationen beschlossen daraufhin, die Informationen über das Internet bis 2027 für alle zugänglich zu machen.

Riesiger Andrang

Im Moment ermöglicht die Website des Projekts "Oorlog voor de Rechter" (Der Krieg vor Gericht) Zugriff auf die Namen Verstorbener, gegen die nach 1945 wegen Kollaboration mit den deutschen Besatzern ermittelt wurde. Die zu den Namen gehörenden Akten können jedoch nur persönlich in Den Haag eingesehen werden, da die niederländische Datenschutzbehörde vorerst verbot, die kompletten Dokumente ins Internet zu stellen.

Der Andrang ist riesig: Seit Januar strömen Nachkommen von Tätern in Massen in das Archiv in Den Haag, um die Ermittlungsakten einzusehen.

Autorin fand Wahrheit über ihre Vorfahren heraus

Für Autorin Biesheuvel begann die Suche nach der Wahrheit über ihre Familie schon viel früher. Nach fünf Jahren Recherche fand sie heraus, dass mehrere Verwandte der nationalsozialistischen Bewegung der Niederlande (NSB) angehörten, manche arbeiteten in Konzentrationslagern.

In ihrem Buch erzählt die Schriftstellerin, wie sie aus allen Wolken gefallen sei, als sie erfuhr, dass ihr Vorfahre Hendrik, Gemüsehändler in Amsterdam, ein Nazi war. Ein Bericht deutet sogar an, dass Hendrik derjenige gewesen sein könnte, der das Versteck des jüdischen Mädchens Anne Frank verriet.

Das wohl bekannteste niederländische Holocaust-Opfer: ein Wandbild von Anne Frank in Amsterdam. © picture alliance/Anadolu/Mouneb Taim

Belege dafür fand Biesheuvel nicht - aber jede Menge andere erschreckende Erkenntnisse. "Er war Wachmann in einem Konzentrationslager und setzte alle antijüdischen Gesetze durch", sagt Biesheuvel. "Er gehörte zu denjenigen, die die Schilder 'Für Juden verboten' an Türen nagelte."

Lesen Sie auch

Beim Graben in Archiven fand sie auch heraus, dass ihre Großtante Cato, die sie in ihrer Kindheit als warmherzig erlebte, ohne Skrupel eine Mutter deportieren ließ. Im Zweiten Weltkrieg wurden etwa 107.000 niederländische Juden und Flüchtlinge deportiert, 102.000 wurden getötet das waren drei Viertel der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg.

Eine emotionale Debatte

Die Veröffentlichung allein der Namen sorgt in den Niederlanden für eine emotionale Debatte. Sollten die Akten vollständig ins Netz gestellt werden, könnten sie im Zeitalter von Online-Medien missbraucht werden, fürchten viele. "Ich denke, es sind zu sensible Daten, um sie zu veröffentlichen", sagt Michael Schuling, der Vorsitzende des Verbandes Werkgroep Herkenning, in dem sich die Nachkommen von Kollaborateuren austauschen.

Seit 2020 recherchiert der 52-jährige Informatiker intensiv seine eigene Familiengeschichte. Anlass war ein Foto von 1940. Es zeigt seine strahlende Großmutter mit Hut und Trenchcoat neben einem deutschen Soldaten. "Ich wusste, dass mein Vater das Kind eines deutschen Soldaten war. Aber ich hatte nie nachgeforscht, mein Vater wollte nichts davon hören", erzählt er.

"Wir sind erwachsen, das ist unsere Geschichte. Lasst uns darüber reden, bevor es zu spät ist."

Stephanie Biesheuvel

Schuling fand heraus, dass sein Vater Gunther in einem deutschen Entbindungsheim des Lebensborn-Projekts geboren wurde, das sich für die Ausbreitung der so genannten "arischen Rasse" einsetzte. Nach dem Krieg wurde Schulings Großmutter verhaftet und in ein Lager gesteckt, weil sie ein Kind mit einem Deutschen hatte. Gunther wurde ihr weggenommen und kam in Heime eine für ihn traumatische Erfahrung. "Die Kinder waren Opfer der Entscheidungen ihrer Eltern", beklagt Schuling.

Autorin Biesheuvel ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass das dunkle Kapitel der Nazi-Kollaborateure nicht in Vergessenheit gerät. Sie sammelt Spenden für die Gedenkstätte von Kamp Vught, einem deutschen Konzentrationslager in den Niederlanden. "Wir sind erwachsen, das ist unsere Geschichte", sagt Biesheuvel. "Lasst uns darüber reden, bevor es zu spät ist." (afp/bearbeitet von fab)