Seit Beginn der Feuerpause vor einer Woche hat die islamistische Terrororganisation Hamas über 70 israelische Geiseln freigelassen. Nun wird immer mehr klar: Die Menschen haben seit ihrer Entführung am 7. Oktober viel Leid ertragen müssen.
Unterernährt, isoliert, bedroht: Nach der Rückkehr der ersten Geiseln aus der Gewalt der Hamas kommen allmählich immer mehr Einzelheiten über das von ihnen Erlittene ans Licht. Zwar hat sich noch keine der seit der Feuerpause am Freitag 71 freigelassenen Geiseln - die meisten von ihnen Frauen und Kinder - selbst öffentlich geäußert. Doch Angehörige und Ärzte berichten von deren traumatischen Erlebnissen im Gazastreifen.
Seine Tochter Emily spreche nur noch im Flüsterton, sagte Thomas Hand in einem Interview mit der britischen Zeitung "The Sun". "Sie war ein normales, fröhliches und lautes Kind, aber jetzt flüstert sie", sagt der Vater. Seine Tochter bewege "lautlos und sogar atemlos" ihre Lippen. Sie habe sich in den vergangenen 50 Tagen offenbar daran gewöhnt, so zu sprechen. "Jetzt kann sie wohl nicht mehr aufhören."
Emilys Vater: Seine Tochter flüstert nur noch
Körperlich misshandelt wurde Emily ihm zufolge wohl nicht, sie habe aber erheblich an Gewicht verloren. Er werde nun "alles tun", was nötig sei, um ihren Heilungsprozess zu unterstützen, sagt Hand.
Emily war am 7. Oktober im Kibbuz Beeri verschleppt worden. Bei ihrem brutalen Überfall auf Israel richteten die Hamas-Islamisten am 7. Oktober in zahlreichen israelischen Dörfern ein Massaker an. Nach israelischen Angaben verübten hunderte Kämpfer der von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuften Palästinenserorganisation Gräueltaten überwiegend an Zivilisten und töteten auf grausame Weise etwa 1200 Menschen - mehr als hundert Bewohner allein in Beeri. Rund 240 Menschen wurden verschleppt, viele von ihnen Frauen und Kinder wie Emily.
Emilys Vater hatte sein Kind nach dem Hamas-Überfall zunächst für tot gehalten. Später erfuhr er, dass es als Geisel verschleppt worden war. Am Samstag kam Emily nach 50 Tagen im Gazastreifen im Rahmen eines von Katar, Ägypten und den USA vermittelten Abkommens frei.
Schwer traumatisierte Abigail: Vierjährige musste Mord an ihren Eltern miterleben
Auch die vierjährige Abigail kam im Zuge der Vereinbarung frei. Ihre seit sieben Wochen verzweifelt wartenden Angehörigen hätten der Kleinen "das Leben zurückgegeben", sagte die in den USA lebende Großtante der Vierjährigen, Liz Hirsh Naftali, vor Journalisten in Washington.
Bei dem Hamas-Angriff am 7. Oktober musste Abigail mit ansehen, wie ihre Eltern im Kibbuz Kfar Aza ermordet wurden. Das Mädchen konnte zu den Nachbarn flüchten, mit denen zusammen sie als Geisel genommen wurde. Ihre Geschwister Michael und Amalya entgingen dem Angriff in einem Schrank versteckt.
Nach ihrer Rückkehr nach Israel habe Abigail ihre Geschwister und Cousins wiedergesehen und "gelächelt", berichtete Hirsh. Doch das ganze Ausmaß der Gewalt, die Auswirkungen von mehr als 50 Tagen "irgendwo im Dunkeln" verbrachter Geiselhaft würden erst "in ein paar Jahren" zu fassen sein.
Geiseln harrten im Dunkeln aus
Der Ärztin Margarita Maschavi vom Wolfson-Krankenhaus zufolge wurden viele der Geiseln in Kellern festgehalten. Die Nachrichtenseite Ynet zitierte Maschavi mit den Worten: "Man hat ihnen nur zwei Stunden Licht am Tag gegeben."
Die Patienten hätten der Medizinerin erzählt, dass die Mahlzeiten im Gazastreifen aus nichts weiter als "Reis, Hummus und Dosenbohnen und manchmal Käse mit Brot" bestanden hätten. Selbst Bitten um Kugelschreiber zum Zeitvertreib seien von den Hamas-Männern abgelehnt worden. "Sie hatten keinen Fernseher, nichts zum Lesen und verbrachten daher die Zeit mit Gesprächen untereinander", sagte die Ärztin dem Onlineportal.
Zwölfjähriger Eitan: Isoliert und geschlagen
Die Großmutter des am Montag freigelassenen zwölfjährigen Eitan sagte der Nachrichtenseite Walla, dass ihr Enkel 16 Tage lang isoliert von anderen Menschen festgehalten worden sei. "Die Tage, in denen er allein war, waren schrecklich", berichtete sie. Der Junge wirke nun "sehr in sich gekehrt".
Zuvor hatte bereits Eitans Tante angegeben, ihr Neffe sei im Gazastreifen geschlagen worden. "Jedes Mal, wenn ein Kind weinte, bedrohten sie es mit einer Waffe, um es zum Schweigen zu bringen", berichtete Deborah Cohen im französischen Sender BFMTV unter Berufung auf Gespräche mit der Mutter des Jungen. Die Hamas hätte ihn zudem gezwungen, Videos der bei dem Angriff auf Israel am 7. Oktober begangenen Gräueltaten anzusehen.
84-jährige Elma nach Freilassung ins Krankenhaus
Neben dem Bangen um das Schicksal der Kinder gilt die Sorge in Israel auch den hochbetagten Geiseln. Die 84-jährige Elma Avraham musste nach ihrer Freilassung am Sonntag aufgrund ihres lebensbedrohlichen Zustandes per Hubschrauber ins Soroka-Krankenhaus in Beerscheva geflogen werden.
Die alte Dame, eine Künstlerin, war bei dem Überfall der Hamas aus ihrem Kibbuz Nahal Oz im Süden Israels verschleppt worden. Die Ärzte fürchteten aufgrund des offensichtlichen "Mangels an angemessener Pflege" seit dem 7. Oktober um ihr Leben. Am Dienstag gaben sie bekannt, dass sich ihr Zustand verbessert habe.
Die im Gesundheitsministerium für den Umgang mit Geiseln zuständige Hagar Misrachi sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass die Geiseln unter "schrecklichen Bedingungen" mit "klaren medizinischen Folgen" festgehalten worden seien. Einige der Dinge, die sie in den vergangenen Tagen gehört habe, "brechen einem das Herz", sagte Misrachi. Sie seien "in jeder Hinsicht ungeheuerlich". (AFP/cgo)
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