Israel ist in den Libanon einmarschiert und bekämpft dort Stellungen der Hisbollah. Der Iran wiederum hat Israel mit Raketen bombardiert. Wie brisant ist die Lage? Zwei Experten ordnen sie ein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Seit dem iranischen Angriff auf Israel mit 180 ballistischen Raketen blickt die Welt mit noch größerer Sorge auf den Nahen Osten. Nach dem Luftangriff sprachen israelische Medien von einer "Kriegserklärung", Premierminister Benjamin Netanjahu kündigte Vergeltung an: Der Iran habe "einen großen Fehler gemacht" und werde dafür bezahlen. Der Iran wiederum drohte, seine nächste Antwort werde noch härter ausfallen.

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"Die Aktions-Reaktionskette könnte den Akteuren aus den Händen gleiten", warnt Politikwissenschaftler Tobias Fella vom Institut für Friedens- und Sicherheitsforschung der Universität Hamburg. Die Lage in der Region sei so angespannt wie lange nicht. Es bestehe die Gefahr einer großen Eskalation, in die auch die USA hineingezogen werden könnten, so der Experte.

Israelischer Gegenschlag wahrscheinlich

Fella rechnet damit, dass es zeitnah zu einem israelischen Gegenschlag kommt. "Israel könnte dabei iranische Ölanlagen und weitere strategische Infrastruktur in den Blick nehmen." In einem weiteren Schritt seien auch Ziele im Zusammenhang mit Irans Atomprogramm denkbar. Eine Anlage zur Anreicherung von Uran befindet sich beispielsweise in der Landesmitte in der Stadt Natanz.

"Israel hat dem Iran gezeigt, wie schlecht es um dessen Abschreckungsfähigkeiten bestellt ist. Denn Israel hat die Strahlkraft der Hisbollah reduziert und dem Iran damit gezeigt, was man ihm wegnehmen kann", analysiert Fella. Selbst in gut geschützten Bunkern tief unter der Erde war es dem israelischen Geheimdienst gelungen, seine Feinde aufzuspüren. Deshalb betrachte der Iran seine Abschreckungsfähigkeiten in der Region als gefährdet – eine gefährliche Entwicklung.

Iran in Sorge um sein Drohpotenzial

Dieser Analyse folgt auch Nah-Ost-Experte Rasim Marz: Ihm zufolge haben die israelischen Militärerfolge den Iran selbst in Sorge versetzt. Zu diesen Erfolgen zählen die Bodenoffensive im Libanon sowie die Tötung des Hisbollah-Chefs Nasrallah. Marz sagt: "Der Iran hat Angst, dass sein eigenes Regime ins Wanken geraten könnte."

Ein Krieg zwischen Israel und dem Iran würde aus Sicht der Experten vor allem über Luftangriffe erfolgen. Im internationalen Vergleich des "Global Firepower Rankings" belegt Israel Platz 17 von 145. In das Ranking fließen etwa die Anzahl an Soldaten und die Schlagkraft in der Luft, zu Land und im Wasser ein, aber auch die finanzielle Ausstattung. Der Iran belegt im selben Ranking Platz 14.

"Israel ist eine der stärksten Militärmächte des Nahen Ostens und verfügt über ein großes Waffenarsenal", sagt Marz. Es könne mit seiner militärischen Kraft auch gegen mehrere Staaten gleichzeitig Konflikte austragen. Aber auch der Iran verfüge über ein großes Arsenal aus russischen, chinesischen und eigenen Rüstungsgütern. Der Iran sei außerdem an einem Nuklearprojekt mit unbekanntem Ausmaß beteiligt und habe moderne Militärtechnologie entwickelt.

USA mitten im Wahlkampf

"Israels Armee ist stark auf Reservistinnen und Reservisten angewiesen. Wenn die zu lange kämpfen, fehlen sie in der Wirtschaft", sagt Fella. Im Libanon habe die Hisbollah genau aus diesem Grund ein Interesse daran, Israel in einen längeren Konflikt zu verwickeln und abzunutzen.

Relevant wird aus Sicht der Experten aber auch sein, wer von wem Unterstützung bekommt. So verfügt der Iran über seine "Achse des Widerstands" über Unterstützung mehrerer Milizen, Israel dürfte auf die Hilfe der USA setzen. Letztere befinden sich allerdings derzeit mitten im Wahlkampf.

Hisbollah stark geschwächt

"Das schwächt die US-Administration in ihrer außenpolitischen Entscheidungskraft. Es gab zwar eine Aufstockung der US-Truppen am Persischen Golf. Das ändert aber nichts daran, dass sich die Amerikaner seit der Trump-Administration stückweise aus der Region zurückgezogen und ein Vakuum hinterlassen haben", sagt Marz.

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Gleichzeitig sei die Hisbollah durch die Ausschaltung ihrer Führungsspitze sehr geschwächt, beobachtet Marz. Wie die "New York Times" berichtet, hat Israels Luftwaffe rund die Hälfte des Raketenarsenals der Hisbollah zerstört. Genau jenes militärische Potenzial hatte der Iran bislang als Drohkulisse verwendet, um das eigene Regime samt Atomprogramm zu schützen.

Nur ein "Moment der Schwäche"

Marz aber meint, im Gegensatz zur Hamas im Gaza-Streifen handele es sich bei der Hisbollah um eine Volksbewegung, die einen sehr starken Rückhalt in der Bevölkerung habe. "Dementsprechend ist die Hisbollah zwar in einem Moment der Schwäche, wird sich aber wieder stabilisieren können."

Gut möglich also, dass das immer noch vorhandene erhebliche Raketenpotenzial der Hisbollah bislang nicht weiter zum Einsatz kam, weil die Ausschaltung der Führungsebene die Befehlskette zum Einsturz brachte. Es sei aber nur eine Frage der Zeit, bis sich die Hisbollah erholt habe, ist sich Marz sicher.

Weiteres Konfliktpotenzial

Israel wolle einer Stabilisierung der Hisbollah zuvorkommen und den Libanon in seine Einflusssphäre verwandeln, sagt Marz. "Es sieht danach aus, als geschehe das mit leiser Zustimmung der libanesischen Regierung, damit diese sich aus der Geiselhaft der Hisbollah befreien kann", so der Experte.

Der Iran wolle aber in jedem Fall verhindern, dass Israel für eine Neuordnung des Nahen Ostens sorgt. Allerdings ist der Angriff auf Israel mit rund 200 Raketen aus Sicht von Marz verhaltener verlaufen als der iranische Großangriff im April. Damals hatte der Iran militärisch auf die Bombardierung seiner Botschaft in Syrien durch Israel geantwortet und mehr als 300 Kampfdrohnen und Raketen abgefeuert. Allerdings hatten die Raketen beim jetzigen Angriff eine deutlich kürzere Flugzeit.

Aus Sicht von Marz beobachtet noch ein Akteur die Lage ganz genau: die Türkei. "Das Vakuum, welches die USA im Nahen Osten hinterlassen haben, wurde vor allem vom Iran und auch von der Türkei gefüllt", erläutert Marz.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat Israel bereits in der Vergangenheit mehrfach mit militärischer Einmischung gedroht. In einer Ansprache hatte Erdogan behauptet, die israelische Führung werde auch die Türkei ins Visier nehmen, wenn sie nicht aufgehalten werde. "Hier gibt es großes Konfliktpotenzial", fürchtet Marz.

Über die Gesprächspartner

  • Dr. Tobias Fella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedens- und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg (IFSH). Er forscht zu Großmachtbeziehungen im Kontext des Ukrainekriegs.
  • Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.

Verwendete Quellen

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