Israel hat Anfang Oktober eine Bodenoffensive im Libanon gestartet. Dabei hat es vor allem die proiranische Hisbollah im Visier. Doch der Libanon wird in einem gebeutelten Zustand getroffen, eine humanitäre Katastrophe zeichnet sich bereits ab. Laut Experte Merin Abbass könnte der Libanon zerfallen, wenn die internationale Gemeinschaft nicht einschreitet.
An mehreren Fronten im Nahen Osten tobt aktuell der Krieg, auch seine Anfang Oktober gestartete Bodenoffensive im Libanon setzt Israel mit aller Vehemenz fort. In der vergangenen Woche eröffnete Israel eine neue Front im Südlibanon und warnte Einwohner der Region vor weiteren Angriffen.
Aus dem Libanon heraus beschießt die vom Iran gesteuerte Hisbollah immer wieder den Norden Israels. Auch jetzt setzte die Hisbollah seine Angriffe auf Israel fort. Ziel der Israelis ist es daher, die Hisbollah aus dem Südlibanon zu vertreiben und sie insgesamt militärisch zu schwächen.
Wiederholt sich der Krieg von 2006?
Im Visier hat Israel dabei vor allem "Terrorziele", wozu es etwa Waffenlager, Raketenabschussrampen, Finanzeinrichtungen und Infrastruktur der Hisbollah zählt. Netanjahus Armee gelang bereits die Tötung mehrerer hochrangiger Hisbollah-Angehörigen.
Dabei ist Israel nicht das erste Mal mit Truppen im Libanon. Bereits im Juli 2006 standen sich für 34 Tage Kämpfer der proiranischen Schiitenmiliz und israelische Soldaten gegenüber, nachdem Hisbollah-Kämpfer in israelisches Territorium eingedrungen waren, mehrere Soldaten getötet und zwei Israelis entführt hatten. Der zweite Libanonkrieg endete mit einem Waffenstillstand.
Dass sich der Krieg von 2006 wiederholt, glaubt Libanon-Experte Merin Abbass nicht. "Dieser Krieg ist schon jetzt ein ganz anderer Krieg im Vergleich zu 2006", sagt er. Der aktuelle Krieg sei deutlich brutaler und umfassender. "Es gibt jetzt schon mittlerweile über 2.300 Tote und über 10.000 Verletzte", sagt er.
Israel hat diesmal bessere Karten
Der Krieg im Jahr 2006 war nach 34 Tagen beendet, knapp über 1.000 Menschenleben fielen ihm zum Opfer. Seit der Kriegserfahrung von 2006 haben sich Israels Aufklärungsarbeit und die Luftverteidigung deutlich verbessert. So scheint die Hisbollah heute deutlich stärker unterwandert zu sein, auch die Raketen-Abfangsysteme haben Israels Ausgangslage deutlich verbessert. Zudem unterstützt ein großer Teil der israelischen Bevölkerung heute den Krieg im Libanon.
"Der jetzige Krieg wird auch ganz anders geführt, es gibt deutlich mehr Luftschläge. Seit dem 8. Oktober 2023 sind aus israelischer Sicht über 10.000 Luftanschläge ausgeübt worden", sagt Abbass. Das liegt auch unter anderem daran, dass die Hisbollah militärisch besser ausgestattet ist und sich fest in den Strukturen des Landes verankert hat.
Libanon in katastrophalem Zustand
Gleichzeitig würden die Schläge Israels den Libanon in einem ohnehin gebeutelten Zustand treffen. "Fast ein Viertel der libanesischen Bevölkerung ist vertrieben worden. Es gibt völlig zerstörte Dörfer im Süden des Landes. Rund 30 Prozent des libanesischen Gebiets sind mittlerweile evakuiert oder soll evakuiert werden", sagt Abbass. So dramatisch seien die Zustände 2006 nicht gewesen. Die israelischen Truppen seien ohne massive Zerstörung der Dörfer und Städte direkt bis nach Beirut durchmarschiert.
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Damals hatte die israelische Invasion die Hisbollah gestärkt. Denn sie konnte sich als Verteidigerin der libanesischen Souveränität verkaufen. Die UN-Resolution 1701 führte damals zu einem Waffenstillstand. Es konnte vermittelt werden, dass Israel sich aus dem Libanon zurückziehen werde und die Grenze zwischen Israel und dem Libanon von Kräften der Vereinten Nationen überwacht werden sollte.
Libanon könnte zerfallen
"Es ist diesmal leider nicht auszuschließen, dass der Libanon komplett zerfällt", sagt Abbass. Man befinde sich noch mitten im Krieg, wisse nicht, wie lange er dauern werde und welche Konsequenzen der Krieg nach sich ziehen werde.
"Aber schon vor dem Krieg war der Libanon wirtschaftlich und politisch völlig am Boden. Er steckte bereits seit zwei Jahren in einer politischen Sackgasse ohne einen Präsidenten", erinnert Abbas. Das Gesundheitssystem sei extrem marode und könne den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht werden. Hinzukämen eine Finanz- und Wirtschaftskrise, gefolgt von einer Energiekrise.
"Je nachdem, wie lange dieser Krieg dauern wird, können wir schon davon ausgehen, dass es den Libanon schon extrem stark getroffen hat und es könnte noch schlimmer werden. Wir haben jetzt schon ein humanitäres Desaster in dem Land", sagt Abbas. Es gebe bereits die ersten Cholera-Fälle und es sei schwer abzusehen, was noch kommen könnte.
Weit von Kriegszielen entfernt
Von seinen offiziellen Kriegszielen sei Israel noch weit entfernt. "Es will vor allem die Israelis im Norden des Landes wieder zurückzubringen, sodass sie wieder sicher im Norden leben können und die Hisbollah zu schwächen", erinnert Abbas. Offiziell werde dabei nicht von einer Vernichtung der Hisbollah, sondern von einer Schwächung und von einem Schaden ihrer militärischen Einrichtungen gesprochen.
"Zu Beginn der Invasion hat die israelische Armee gesagt, die Siedler könnten in zwei Wochen wieder in den Norden des Landes zurückkehren. Jetzt sind schon mehr als vier Wochen vergangen und es ist für sie noch viel gefährlicher geworden, da die Hisbollah mit Raketen und Drohnen zurückschießt", so der Experte.
Blick auf Zivilisten richten
Im Unterschied zu 2006 sei aber der einzige Flughafen des Landes noch nicht bombardiert worden. Das sei 2006 bereits am zweiten Tag geschehen. "Es heißt, dass die Amerikaner die Israelis aufgefordert haben, den Flughafen nicht anzugreifen", sagt Abbas.
Zwei Punkte gehen aus seiner Sicht in der Debatte häufig unter. "Der Libanon ist nicht gleich die Hisbollah und die Hisbollah repräsentiert nicht den Libanon und alle Libanesen. Die über 2.000 Toten und die fast über eine Million Vertriebenen, sind nicht alles Hisbollah-Kämpfer", so der Experte. Man nehme unter dem Vorwand des "Rechts auf Selbstverteidigung Israels" oder durch die Unterstellung, dass das alles Hisbollah-Kämpfer seien, den Tod vieler Zivilisten in Kauf.
"Auch medizinisches Personal wird häufig angegriffen mit dem Vorwand, dass sie Hisbollah-Kämpfer in Krankenwagen transportieren", beobachtet Abbas. Die internationale Gemeinschaft dürfe nicht den gleichen Fehler machen wie in Gaza und einfach nichts tun, sondern müsse die beiden Konfliktparteien schnell zu einer politischen Lösung bringen. Sonst droht aus Sicht von Abbas eine weitere Katastrophe: "Der Libanon könnte zum zweiten Gaza werden", warnt er.
Über den Gesprächspartner
- Merin Abbass leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung im Libanon. Zuvor war er Leiter des FES-Büros in Libyen und Algerien. Er hat Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen in Deutschland und England studiert.
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