Israels Militär will die besetzten Gebiete im Gazastreifen nicht mehr räumen. UN-Chef António Guterres zeigt sich angesichts der Lage besorgt. Auch in Israel mehren sich Forderungen nach einem Ende des Kriegs.
Anderthalb Jahre nach Beginn des Kriegs stehen laut UN-Angaben rund zwei Drittel des Gazastreifen unter Israels Evakuierungsbefehl oder werden von der Armee als Sperrzone betrachtet. Und nach Angaben des israelischen Verteidigungsministers Israel Katz soll das bis auf Weiteres auch so bleiben. Die Armee werde in den "Sicherheitszonen" bleiben und als Puffer zwischen dem Feind und den israelischen Gemeinden fungieren, "in jeder vorübergehenden oder dauerhaften Realität", sagte Katz nach Angaben seines Büros.
Demnach sollen Israels Soldaten in allen eroberten Gebieten im Gazastreifen dauerhaft die Kontrolle behalten. Dies gelte auch im Libanon sowie in Syrien. Anders als in der Vergangenheit werde die Armee keine Gebiete mehr räumen, teilte Katz weiter mit. Sollte die Hamas die Geiseln nicht freilassen, würden die Einsätze ausgeweitet.
Zu Beginn des Krieges hatte Israel seine Truppen hingegen von Ort zu Ort verlegt und erklärt, es werde keine Gebiete besetzen. Doch Anfang des Monats hatte Katz angekündigt, große Gebiete im Gazastreifen zu erobern, die unter israelischer Kontrolle als "Sicherheitszonen" dienen sollen.
Inzwischen hätten Israels Truppen etwa ein Drittel des abgeriegelten Gazastreifens eingenommen und die dortigen Bewohner vertrieben, berichtete das "Wall Street Journal".
Immer häufigere Evakuierungsbefehle
Derzeit befinden sich rund 70 Prozent des Gazastreifens unter Befehls Israels, wie UN-Generalsekretär António Guterres auf der Plattform X schreibt. "Ich bin sehr besorgt, da die (humanitäre) Hilfe weiterhin blockiert wird, mit verheerenden Folgen."
Nach UN-Angaben wurden allein zwischen dem 18. März und dem 8. April fast 400.000 Palästinenser innerhalb des Küstenstreifens vertrieben. Insgesamt leben in dem dicht besiedelten Gebiet am Mittelmeer mehr als zwei Millionen Menschen.
Kürzlich beklagte das UN-Menschenrechtsbüro, die immer häufigeren Evakuierungsbefehle hätten dazu geführt, dass die Palästinenser gewaltsam in immer kleiner werdende Gebiete gedrängt werden, in denen sie kaum oder gar keinen Zugang zu Wasser, Nahrung und Unterkünften hätten.
Israel will mit seiner Strategie, die islamistische Hamas zum Einlenken zwingen. Sie soll die restlichen 24 Geiseln freilassen, von denen man annimmt, dass sie noch am Leben sind, und 35 Leichen anderer aus Israel Entführter übergeben. Unter den vermutlich noch Lebenden sind auch ein Nepalese sowie ein Thailänder, auch unter den Toten sind mehrere Ausländer, die in Israel arbeiteten. Sie waren beim Terrorüberfall der Hamas und anderer islamistischer Extremisten auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 nach Gaza verschleppt worden.
Netanjahu droht Hamas weitere Schläge an
Die Hamas werde immer mehr Schläge einstecken müssen, sagte Israels Ministerpräsident
Die Hamas überdenke derzeit einen Vorschlag der ägyptischen Vermittler zur Freilassung von bis zu elf der 24 Geiseln sowie der Leichen mehrerer weiterer Entführter im Gegenzug für eine neue Waffenruhe von bis zu 70 Tagen, zitierte das "Wall Street Journal" ägyptische Beamte. Der Vorschlag beinhaltet auch die Forderung, dass die Hamas ihre Waffen abgibt, was die Terrororganisation zurückwies.
Netanjahu drängt auf ein Abkommen, das die Freilassung der Geiseln vorsieht, Israel aber erlaubt, den Krieg fortzusetzen, bis die Hamas vollständig besiegt ist oder von sich aus die Waffen niederlegt. Die Islamisten sind jedoch nur zur Freilassung der Entführten bereit, wenn Israel einem Ende des Kriegs zustimmt.
Ex-Soldaten fordern Vorrang der Geiseln
In Israel mehren sich derzeit Stimmen selbst aus den Reihen der Armee, die Kritik am Vorgehen der Streitkräfte im Gazastreifen äußern, die Prioritäten der Regierung Netanjahus hinterfragen und sogar ein Ende des Kriegs fordern. 472 Ex-Soldaten aus Spezialeinheiten, darunter aktive Reservisten, hätten einen Brief unterzeichnet, in dem sie dazu aufrufen, der Freilassung der Geiseln Vorrang vor der Weiterführung des Kriegs zu geben, meldete die israelische Zeitung "Haaretz". Darin heißt es: "Die Freilassung der Geiseln ist heute das wichtigste moralische Gebot und hat Vorrang vor allen anderen Zielen."
Medienberichten zufolge verweigern auch immer mehr Reservisten die Rückkehr zu den Kämpfen, weil sie mit dem Vorgehen der Armee nicht einverstanden seien und etwa eine israelische Wiederbesetzung des Gazastreifens fürchten.
Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner fordern seit längerem eine Wiederbesiedlung des Küstenstreifens, aus dem Israel sich vor 20 Jahren zurückgezogen hat. US-Präsident Donald Trump als Netanjahus wichtigster Verbündeter sagte kürzlich, Israel hätte das "unglaublich wichtige Stück Grundbesitz" – wie er das Kriegsgebiet bezeichnet – nicht aufgeben sollen.
Widerstand auch von Künstlern und Architekten
Laut der "Times of Israel" sprachen sich auch etwa 1.700 Künstler und Kulturschaffende für einen sofortigen Stopp der Kämpfe und die Freilassung der Geiseln aus.
In einem Schreiben der Gruppe hieß es demnach, der Gaza-Krieg diene politischen Interessen, bringe Geiseln und Soldaten in Gefahr und führe zu Leid und Tausenden Opfern auf beiden Seiten. Auch 350 israelische Autoren und Autorinnen forderten demnach ein Ende des Kriegs.
Rund 600 Architekten, Ingenieure und Stadtplaner schlossen sich der Zeitung zufolge in einem weiteren Schreiben der Forderung nach Freilassung der Geiseln an, auch wenn dies das Ende des Kriegs bedeuten sollte. (dpa/bearbeitet von thp)