Kurz nach dem verheerenden Angriff auf Israel kündigte die israelische Regierung die komplette Vernichtung der islamistischen Terrororganisation Hamas an. Politikwissenschaftler Stephan Stetter sieht die Offensive jedoch vor zahlreichen Herausforderungen stehen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Katharina Ahnefeld sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Mit ihrer Freilassung aus der Geiselhaft der Hamas kehrte Yocheved Lifshitz an die Oberfläche zurück. 17 Tage lang war die 85-jährige Israelin in dem weitläufigen Tunnelsystem der islamistischen Terrororganisation im Gazastreifen gefangen gehalten worden. Wenige Stunden später berichtete sie auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv, wie sie nach ihrer Entführung stundenlang durch ein "Spinnennetz von Tunneln" habe laufen müssen.

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Dieses unübersichtliche "Spinnennetz", von Israel auch "Metro" genannt, zeigt sinnbildlich, wie schwierig die angekündigte umfassende israelische Offensive im Krieg gegen die Hamas sein dürfte. Denn Krieg herrscht, seitdem die Terrororganisation am 7. Oktober in Israel eindrang, ein Massaker unter der Zivilbevölkerung anrichtete und mehr als 200 Geiseln nahm.

Wie Israel die Terrororganisation Hamas zerstören will

Kurz nach dem Überfall schwor Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sein Land auf Rache ein: "Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein." Und Verteidigungsminister Joav Galant kündigte gar die komplette Vernichtung der Terrororganisation an. Das wiederum hält Politikwissenschaftler Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr München im Gespräch mit unserer Redaktion für wenig aussichtsreich.

"International und innenpolitisch herrscht Druck, dass sich dieser Konflikt nicht regional ausweiten darf. Hinzu kommt, dass sich zahlreiche Geiseln im Gazastreifen befinden. Diese Gemengelage macht eine umfassende israelische Bodenoffensive schwierig. Bislang sehen wir eine solche nur in einem sehr begrenzten Rahmen", so der Experte für internationale Politik und Konfliktforschung.

Statt einer kompletten Vernichtung der Terrororganisation dürfte im Fokus stehen, die Hamas als Regierungspartei im Gazastreifen zu stürzen und militärisch so einzuschränken, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Raketen abzuschießen oder Terrorangriffe auszuführen. "Es geht um die Ermöglichung einer politischen Perspektive für die Palästinenser im Gazastreifen ohne die Hamas", so der Politikwissenschaftler.

Gazastreifen: Hamas nutzt Zivilbevölkerung als Schutzschild

Denn die Hamas als politische Bewegung sei in Teilen der palästinensischen Bevölkerung verankert. Dass sich die Bevölkerung selbst dagegen auflehnt, ist aber auch aus anderen Gründen ein unrealistisches Szenario: Die Zivilbevölkerung hätte weder die Waffen hierfür noch die politischen Strukturen. Seit 2007 wird der Gazastreifen von der Terrororganisation streng autoritär regiert. Das Fehlen einer Perspektive im israelisch-palästinensischen Konflikt und die seit Jahren zunehmende katastrophale humanitäre Lage hätten die Unterstützung für die Hamas auch mit befeuert, sagt der Politologe.

Seit Ausbruch des Kriegs ist besagte humanitäre Lage noch viel katastrophaler. In dem dicht besiedelten Gazastreifen leben auf engstem Raum über zwei Millionen Menschen. Nach dem Angriff am 7. Oktober riegelte Israel das nur 40 Kilometer lange Küstengebiet komplett ab und fliegt seitdem Luftangriffe auf Stellungen der Hamas. Mehr als eine Million Menschen befinden sich auf der Flucht in den Süden des Gazastreifens. Die Hamas wiederum benutzt die palästinensische Bevölkerung als menschliche Schutzschilde. Und die israelischen Geiseln als Faustpfand.

Bei einem aktuellen EU-Gipfel forderten die Staats- und Regierungschef nun "Korridore und Pausen zu humanitären Zwecken" im Gazastreifen – und drückten ihre "größte Besorgnis" aufgrund der Zustände aus. Die vorsichtig formulierten Äußerungen, um die tagelang gerungen wurde, zeigen, dass der Krieg in Nahost die Mitgliedsstaaten untereinander in Bedrängnis bringt. Aber auch, dass die Unterstützung für die Selbstverteidigung Israels ihre Grenzen hat.

Israel im Krieg mit Hamas: Internationale Gemeinschaft will Flächenbrand verhindern

International wird daran gearbeitet, einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern. Ersichtlich wird dies an der Rolle der USA. "US-Präsident Joe Biden errichtet eine Abschreckungskulisse gegenüber der Hisbollah und vor allem Iran, um den Konflikt lokal zu begrenzen, macht aber gleichzeitig deutlich, dass der Krieg seitens Israels nach den Regeln des Völkerrechts geführt werden muss", sagt Stetter.

Bezüglich einer umfassenden Bodenoffensive im Gazastreifen herrscht auch in Israel kein Konsens. Wie Reuters jüngst berichtete, sprachen sich in einer aktuellen Umfrage 49 Prozent der Israelis für ein Aufschieben aus. Nicht zuletzt aufgrund der entführten Geiseln. Kurzum: Bereits jetzt ist absehbar, dass ein rasches Ende der Kriegshandlungen Wunschdenken sein dürfte. Und damit auch eine Zerschlagung der Hamas.

Am Ende ihrer Geiselhaft setzte Yocheved Lifshitz ein bemerkenswertes, wenn auch kontrovers diskutiertes Zeichen. Die 85-Jährige hatte sich in ihrem Leben stets für die Verständigung zwischen Israel und Palästina eingesetzt. Auf einem in internationalen Medien verbreiteten Video ist zu sehen, wie sich die alte Dame bei ihrer Freilassung zu einem ihrer Entführer umdreht, ihm die Hand gibt – und "Schalom" sagt. Es ist das hebräische Wort für "Frieden". Ein Frieden, der nach dem 7. Oktober in noch weitere Ferne gerückt sein dürfte.

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Stephan Stetter lehrt an der Universität der Bundeswehr München Internationale Politik und Konfliktforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Theorien der internationalen Politik in der Globalen Moderne; Politik, Konflikte und Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten, mit Schwerpunkt Israel und Palästina.

Verwendete Quellen:

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