Für die freikommenden Geiseln und die notleidende Zivilbevölkerung des Gazastreifens ist das Abkommen zwischen Israel und der Hamas ein Segen - für Israels Militär bedeutet es dagegen einen Rückschlag.
"Aus militärischer Sicht ist es ein äußerst unwillkommenes Ereignis", fasst der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem die Feuerpause aus Sicht der Armee zusammen. "Die größte Gefahr ist, dass sie ihr Momentum verliert."
Das Militär habe in den vergangenen Wochen ihre Strategie immer weiter verbessert, erläutert Orbach. Die Armee nun bei ihrem Einsatz zu unterbrechen, sei wie eine gut geschmiert laufende Maschine zu stoppen. "Sie wieder anzukurbeln, wird schwerer sein."
Die am Freitag in Kraft getretene Kampfpause sollte zunächst vier Tage bis Dienstagfrüh dauern und könnte dann vielleicht noch einmal verlängert werden. Die militärischen Aktivitäten beider Seiten könnten nach der Abmachung sogar über maximal zehn Tage ausgesetzt werden.
Experte: Hamas wird durch Feuerpause gestärkt
Die Hamas werde gestärkt aus der Kampfpause hervorgehen, betont Orbach. "Es ist ein schreckliches Dilemma für die israelische Regierung und die israelische Gesellschaft", sagt Israels ehemaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater, Eran Lerman, im Magazin "Foreign Policy". Die Armee sei aber in der Lage, die Kämpfe nach der Feuerpause wieder aufzunehmen.
Die Hamas werde die Zeit nutzen, um sich neu zu organisieren, so Orbach. Die Islamistenorganisation werde zugleich versuchen, Erkenntnisse unter anderem über die Aufstellung des israelischen Militärs zu gewinnen. Der Vorteil der Hamas dabei sei, dass sich ihre Mitglieder während der Feuerpause ohne Angst vor Angriffen relativ frei bewegen könnten.
Israelische Medien warnen zudem davor, dass die Hamas die Feuerpause für eine Aufrüstung mithilfe von aus Ägypten geschmuggelten Waffen und das Anlegen von Vorräten aus den Hilfsgütern nutzen werde. Orbach geht davon aus, dass sich die Islamistenorganisation auch Treibstoff sichern werde, der im Rahmen des Deals mit den ausgeweiteten Transporten von Hilfsgütern geliefert werde.
Experte: "Die Hamas will Gefechte in dicht besiedelten Gebieten"
Der Militärhistoriker fürchtet außerdem, dass die Hamas versuchen könnte, geflüchtete Anwohner etwa auch über ihre Tunnel zurück in den Norden zu bringen. Dies würde die Evakuierungs-Bemühungen der Armee, die ohne die Anwesenheit der Zivilisten freier kämpfen könne, zunichtemachen. "Die Hamas will Gefechte in dicht besiedelten Gebieten, denn die Zivilisten sind ihre Verteidigungsstrategie", erläutert der Militärhistoriker. Die Armee wirft der Hamas immer wieder vor, Zivilisten als Schutzschilde zu missbrauchen.
Nach Augenzeugenberichten ist es seit Beginn der Feuerpause Hunderten von Menschen gelungen, wieder aus dem Süden zurück in ihre - weitgehend zerstörten - Wohnorte im Norden zu gelangen. Viele wollten etwa nach Angehörigen suchen, nach ihrem Zuhause schauen oder Sachen holen. Israels Militär, das ein Verbot der Rückkehr aussprach, setzte demnach Tränengas und teilweise auch scharfe Munition gegen Palästinenser ein, um sie daran zu hindern.
Teil der Einigung der beiden Kriegsparteien ist ein Austausch von bis zu 100 der von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gegen bis zu 300 palästinensische Insassen israelischer Gefängnisse. Die Islamistenorganisation wird somit auch nach Ablauf der Kampfpause weiterhin noch viele der rund 240 aus Israel verschleppten Menschen als Verhandlungsmasse in ihrer Gewalt haben.
Experte: "Die Hamas hat kein Interesse an einem Bruch"
Orbach geht davon aus, dass die Feuerpause trotz möglicher Zwischenfälle erhalten bleiben dürfte. "Die Hamas hat kein Interesse an einem Bruch." Sie werde vielmehr versuchen, die Kampfpause so lange auszudehnen wie möglich.
Die Terrororganisation hoffe, dass Israel seinen Einsatz im Gazastreifen im Zuge von Feuerpausen schrittweise reduzieren und schließlich einem dauerhaften Waffenstillstand zustimmen werde, schreibt die Zeitung "Israel Hayom". Trotz vieler guter Ergebnisse habe Israel seine Kriegsziele aber noch lange nicht erreicht.
Nach dem beispiellosen Massaker am 7. Oktober will Israels Armee die militärischen Fähigkeiten und die Führung der Hamas im Gazastreifen zerstören und alle Geiseln nach Hause bringen. Je kürzer die Aussetzung der Kämpfe ausfalle, umso besser sei es aus Sicht der israelischen Armee, erläutert der Militärhistoriker Orbach.
"Atempause" für das israelische Militär
Armeeangaben zufolge bleiben die israelischen Soldaten während der Feuerpause innerhalb des Gazastreifens. Das Militär solle sich in der Zeit auf die Planung der nächsten Kampfphasen konzentrieren, betont Sprecher Daniel Hagari. Nach dem Willen von Verteidigungsminister Joav Galant soll das Militär während der "kurzen Atempause" auch Waffen nachliefern.
Israels Einsatzkräfte versuchen dem Militärexperten Orbach zufolge in der Zeit auch, Informationen über den Gegner zu sammeln. Dafür nutzten sie etwa Abhörtechnik und Ferngläser. Die israelische Luftüberwachung ist im Zuge des Deals im Süden des Küstenstreifens komplett und im Norden täglich für sechs Stunden eingestellt.
Die Armee stärke zudem ihre Verteidigung im Gazastreifen, indem sie etwa Barrieren aufbaue und sich in eroberten Gebieten verschanze. "Die Nachteile der Feuerpause überwiegen aus Sicht der israelischen Armee aber die Vorteile", resümiert Militärhistoriker Orbach. Nach der Feuerpause wolle die Armee ihren intensiven Feldzug im Gazastreifen für mindestens zwei weitere Monate fortsetzen, kündigte Verteidigungsminister Galant an.
Mehr Gefahr für die israelischen Soldaten nach der Waffenruhe
Eine gestärkte Hamas könnte dann israelische Soldaten zusätzlich in Gefahr bringen, mutmaßen israelische Medien. Auch Orbach geht davon aus, dass nach der Wiederaufnahme der Kämpfe in dem Küstengebiet deutlich mehr israelische Soldaten getötet werden als bislang. "Letztendlich riskiert man das Leben der Soldaten, um das der Entführten zu retten." Dieses Opfer sei es den Israelis aber wert, betont der Militärexperte.
Für den Ausgang des Kriegs ist die Feuerpause laut Orbach nicht wirklich entscheidend. Israel könne den Krieg gewinnen, sofern der Druck, einen dauerhaften Waffenstillstand zu schließen, nicht zu groß werde - sei es aus dem Ausland oder auch durch die Angehörigen der Geiseln im Inland. (Cindy Riechau, dpa/tha)
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