Der Paris-Attentäter Salah Abdeslam konnte sich monatelang im Brüsseler Stadtteil Molenbeek verstecken, der als Problemviertel und "sozialer Brennpunkt" gilt. Ist ein solches "Zentrum des Terrors", wie Molenbeek jetzt genannt wird, auch in Österreich möglich? Der ORF geht der Frage in einer "Thema"-Reportage nach.
Wenige Tage vor den Attentaten in Brüssel am 22. März wurde im Problemviertel Molenbeek der Paris-Attentäter Salah Abdeslam festgenommen. Seitdem gilt der Stadtteil in den Medien als "Brutstätte des Terrors". Es ist die zweitärmste Gemeinde mit den meisten Muslimen Belgiens.
Wie ist die derzeitige Situation in Molenbeek?
Die gebürtige Oberösterreicherin Irene Zeilinger, die seit 17 Jahren in Molenbeek lebt und dort seit fünf Jahren Selbstverteidigungskurse für Frauen anbietet, ist nicht damit einverstanden, wie das Viertel jetzt "stigmatisiert" und "durch den Dreck gezogen" wird. Die Berichterstattung sei "nicht sehr aufbauend und beruhigend für die Leute, die da wohnen". Es würde dadurch zum Beispiel auch noch schwieriger für Molenbeeker, Arbeit zu finden.
Eine Mitarbeiterin von Zeilinger, Laura Chemont, berichtet von Hausdurchsuchungen. "Es ist eine Art Klima der Schande entstanden, vor allem in der muslimischen Gemeinschaft", erklärt sie. Weil deren Mitglieder von den Attentaten schockiert waren, zogen sich viele danach zurück.
Zeilinger weist auch darauf hin, dass sie in Molenbeek selten Polizei sieht. Zu Fuß seien überhaupt keine Polizisten unterwegs, nur im Streifenwagen, "was auch eine Distanz zur Bevölkerung herstellt". Sie berichtet von Zwischenfällen mit "jungen Männern aus den noch ärmeren Straßen von Molenbeek, die Randale gemacht haben und auch die Polizei manchmal angegriffen haben".
Gibt es ähnliche Viertel in Österreich?
Um der Frage nachzugehen, ob eine Situation wie in Molenbeek auch in Österreich möglich ist, wirft der Bericht einen Blick nach Wien-Ottakring – einen Stadtteil mit 100.000 Einwohnern, von denen jeder fünfte arbeitslos ist und jeder dritte keinen österreichischen Pass besitzt. Es seien "durchaus Parallelen zu Molenbeek" vorhanden, so die Sprecherin des Berichts.
Auch hier, so heißt es, greife die Polizei nur dann ein, "wenn es gar nicht mehr anders ginge". Hermann Greylinger von der Polizeigewerkschaft sieht das anders: Die Wiener Polizisten seien sehr "motiviert, sie nehmen ihre Aufgabe wahr", erklärt er. Allerdings weist er darauf hin, dass mehr Mittel wünschenswert seien.
Es hat in Wien-Ottakring immer wieder Konflikte zwischen verschiedenen Volksgruppen gegeben – Türken, Serben, Kroaten, Albaner –, aber die Lage habe sich schon zum Positiven verändert. Zahlen über Kriminalitätsraten konnte das Reportage-Team allerdings von der Polizei nicht in Erfahrung bringen.
Wer steht in Gefahr, sich zu radikalisieren?
Unter den 1.000 Inhaftierten der Justizanstalt Josefstadt befinden sich 37, die unter Verdacht stehen, einem Terrornetzwerk anzugehören. Moussa Al-Hassan Diaw vom Verein DERAD berichtet, dass es sich um sehr unterschiedliche Menschen handelt: Einige seien ideologisch überzeugt und in Zusammenhang mit diesen Überzeugungen auch verurteilt, andere aus ganz anderen Gründen mit entsprechenden Gruppierungen in Kontakt gekommen.
In den Gesprächen merke er oft, dass er junge Menschen vor sich hat, die "manipuliert und verführt worden sind". Anfällig für die "Seelenfänger" der radikalen Gruppen seien solche, die sich ausgeschlossen und marginalisiert fühlen und auf die Suche nach einer Gemeinschaft gehen, wo das kompensiert wird.
Welches Fazit ziehen die Experten?
Zur Frage, wie sich der Attentäter Abdeslam vier Monate lang in Molenbeek verstecken konnte, ohne von der Polizei gefunden zu werden, erklärt der Wiener Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl: "Das könnten Sie auf jedem Dorf haben. Wenn eine Dorfgemeinschaft zusammenhält, dann können die einen gesuchten Verbrecher oder Tatverdächtigen durchaus verstecken."
Problematisch sei es, sagt Kreissl, wenn Jugendliche aufgrund von mangelhaften Schulabschlüssen und Qualifikationen in keine "halbwegs normale Arbeitskarriere" einsteigen können. Ebenso schwierig sei es, wenn sich am Wohnungsmarkt segregierte Viertel herausbilden. Er ist aber zuversichtlich, dass an diesen Problemen gearbeitet wird: "Es müsste mehr sein, aber es ist das Bewusstsein da."
"Wer keine Parallelgesellschaften will, der sollte auf Projekte setzen, die ein Miteinander fördern", erklärt Ivana Pilic, die bei einer Caritas-Initiative in Wien-Ottakring aktiv ist. Dort können die Menschen "in Beziehung treten, sich verändern, Positionen aufweichen". Sinn ist es, nicht die Unterschiede zu betonen, sondern zu fragen: "Wo sind wir vielleicht gleich, was haben wir denn miteinander gemein?"
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.