Seit wenigen Wochen dürfen die Ukrainer mit westlichen Waffen auch auf russisches Territorium schießen. Hat sich die Entscheidung ausgezahlt? Militärexperte Gustav Gressel beobachtet bereits jetzt "spektakuläre Erfolge". Was sie bedeuten, wieso Putin hochrangige Posten neu besetzt und was hinter seinem Besuch in Nordkorea steckt.
Es war eine Kurskorrektur, die Kanzler
Dann aber wurden die Bedingungen und Beschränkungen gelockert: Zur Verteidigung beispielsweise von Charkiw darf die Ukraine militärische Ziele in Russland attackieren. Die veränderte Kriegssituation habe den Schritt notwendig gemacht, argumentierte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).
Entscheidung ausgezahlt?
Hat sich die Entscheidung bereits ausgezahlt? Militärexperte Gustav Gressel sagt: "Die russische Sommeroffensive rollt mit ziemlich hoher Intensität, die Russen drücken an und erzielen Geländegewinne."
Allerdings spreche man von wenigen hundert Metern pro Tag. Gressel beschreibt die todbringende Taktik der Russen: "Mit massiver Artillerie und Gleitbombenbeschuss werden die Ukrainer in ihre Schutzräume gezwungen. Während des Artilleriefeuers sickern die Russen mit Infanterie in und um die ukrainischen Stellungen ein", beschreibt er.
Sobald die Ukrainer wieder aus den Schutzräumen kämen, gehe es in den Nahkampf. "Das ist sehr verlustreich, da die eigene russische Artillerie viele der einsickernden Russen mitnimmt, aber es bringt Geländegewinne", so der Experte. Das Gros der russischen Angriffe liege derzeit im Donbass.
Experte: "Spektakuläre Erfolge"
Der Norden in Charkiw werde nicht mehr stark offensiv bespielt. Hier hatte Russland bis zur Entscheidung des Westens immer wieder von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet heraus angegriffen – ohne, dass die Ukraine sich wehren konnte.
"Die Erlaubnis, westliche Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen, hat den Hauptvorteil dieser Angriffsrichtung zunichte gemacht, nämlich, dass man aus einem Sanktuarium angreifen kann", sagt Gressel. Außerdem habe die russische Armee nicht mehr genug Reserven, um alle Richtungen gleichzeitig mit frischen Kräften zu nähren. Deshalb konzentriere sie sich auf die wichtigsten Angriffsrichtungen und versuche dort erzielte Einbrüche weiter auszubauen.
"Was den Einsatz westlicher Waffensysteme angeht, hat die Ukraine in den letzten Wochen einige recht spektakuläre Erfolge erzielt – sowohl in Russland als auch auf der Krim", sagt Gressel. Vor allem Fliegerabwehrsysteme und Radaranlagen, Störsender, aber auch Artillerie-Systeme seien den Schlägen zum Opfer gefallen.
US-Raketen schaffen Vorteile
"Das sind alles teure, hochwertige Systeme, die Russland nicht leicht wieder ersetzen kann", sagt Gressel. Würden sich Fliegerabwehrsysteme und Störsender verknappen, würde das auch für andere, billigere Waffensysteme wieder Lücken öffnen, um hochwertige Ziele anzugreifen – etwa Drohnen.
"Mitverantwortlich für die Erfolge ist die Lieferung von ATACMS durch die USA", kommentiert der Experte. Diese Kurzstreckenraketen seien in größeren Stückzahlen vorhanden als etwa die europäischen "Storm Shaddow", außerdem gäbe es sie mit Streumunition. "Das hilft enorm bei der Bekämpfung von Flächenzielen, wie etwa Fliegerabwehrsystemen, Artilleriestellungen oder Hubschrauberlandeplätzen", erklärt Gressel.
Entlassungen auf hohen Posten
Doch es gibt zwei weitere Entwicklungen, die aufhorchen lassen. Zum einen: In der vergangenen Woche entließ Putin auf einen Schlag vier Vize-Verteidigungsminister. Gressel meint jedoch: "Ich glaube, das hat nichts mit Leistung zu tun." Die Personen, die jetzt in die Posten gehievt wurden, seien alle Putins enge Verwandte ohne Erfahrung im Verteidigungsbereich. Neu im Amt sind zum Beispiel Anna Ziwiljowa, Tochter seines verstorbenen Cousins, und Pawel Fradkow, Sohn seines ehemaligen Spionagechefs und Ministerpräsidenten.
"Das hat eher den Sinn mögliche Putschtendenzen im Verteidigungsministerium zu unterbinden oder zu erschweren", ist sich Gressel sicher. Wie bereits bei den Personalien Nikolai Patruschew und Sergei Shoigu, ehemaliger Sekretär des Sicherheitsrates und Verteidigungsminister, hätten die Entscheidungen nichts mit Effizienz zu tun. "Putin hat Angst, dass er beseitigt wird, das ist alles", meint Gressel.
Besuch in Nordkorea
Was ebenfalls für Schlagzeilen sorgte: In der vergangenen Woche (17.) reiste Putin zu einem zweitägigen Besuch nach Nordkorea. "Nordkorea ist für Russland vor allem für Artilleriemunition, Ersatzrohre für Artillerie, und ballistische Raketen wichtig", so Gressel. Die russisch-nordkoreanische Rüstungskooperation sei schon seit den 1990er-Jahren stetig enger geworden.
"Ohne nordkoreanische Munition könnte die russische Sommeroffensive nicht so stattfinden, da ist Putin Kim schon einen Besuch schuldig", kommentiert der Experte. Andersherum gäbe es kein nordkoreanisches Raketen- oder Plutonium-Programm ohne russische Unterstützung.
In den letzten Jahren sei die Rüstungskooperation aus einem einfachen Grund eher im Geheimen betrieben worden: Russland habe sich wohl erhofft, die aufgebaute Gefahr gegen Zugeständnisse wieder weg zu verhandeln. "Hätte man etwa Osteuropa wieder als Einflusssphäre bekommen, hätte man aus russischer Sicht über Nordkorea reden können", analysiert Gressel. Jetzt, da diese Option ohnehin vom Tisch sei, kann man die Kooperation auch ganz offiziell machen.
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