Nizza, Berlin, Jerusalem: In den vergangenen Monaten haben mehrfach Attentäter Lastwagen als Waffe missbraucht. Wie Hersteller und Logistiker der Gefahr begegnen:
Als Anis Amri am Abend des 19. Dezember mit einem Lastwagen auf die Besucher des Weihnachtsmarktes an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zusteuerte, war sein erstes Opfer bereits tot. Amri hatte den Fahrer einer polnischen Spedition erschossen, um an seine Tatwaffe zu kommen: dessen Laster.
"Natürlich beschäftigt das die Fahrer", sagt Martin Bulheller, Leiter des Bereichs Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung. Der Fall führe den Fahrern vor Augen, dass die Wirkung von Schutzmaßnahmen begrenzt ist.
Notbremssystem verhinderte weitere Opfer
Eine solche Schutzmaßnahme sind zum Beispiel Sicherheitsparkplätze entlang der Autobahnen, wo ein hoher Zaun, Kameras und Wachleute die Fahrer vor den Übergriffen Krimineller schützen. Doch davon gibt es laut Bulheller in ganz Deutschland nur zwei - viel zu wenig, wie er sagt.
Eine andere Schutzmaßnahme hat im Fall des Attentats in Berlin offenbar gegriffen und dadurch noch schlimmeres verhindert: AEBS. Dabei handelt es sich um ein Notbremssystem, das seit 2015 in Europa für alle neu zugelassenen Laster mit einem Gewicht von mehr als 3,5 Tonnen vorgeschrieben ist.
AEBS steht für Advanced Emergency Breaking System. Das System empfängt über Radarsensoren Signale und berechnet Geschwindigkeit, Entfernung und Winkel von Objekten vor dem Fahrzeug. Zusätzliche Daten erfasst eine Kamera in der Frontscheibe. Droht eine Kollision, etwa weil der vorausfahrende Verkehr stockt, blinkt eine Warnleuchte im Bordcomputer auf, ein Warnton erklingt. Das System drosselt die Geschwindigkeit. Reagiert der Fahrer nicht, bremst es den Laster bis zum Stillstand ab.
Die Polizei geht davon aus, dass die Technologie Amris Fahrt vorzeitig abgebremst und den Sattelzug nach rund 70 bis 80 Metern komplett gestoppt hat. Doch der Gesetzgeber hat dieser Technik Grenzen gesetzt: Er hat vorgeschrieben, dass der Fahrer das System jederzeit per Knopfdruck ausschalten können muss.
Helfen zusätzliche Vorschriften?
Zwar prüft das Bundesverkehrsministerium als Folge auf den Anschlag in Berlin gerade, ob diese Regelung geändert werden muss. Bulheller allerdings betont: "Dass der Fahrer trotz aller intelligenten Technik immer Herrscher des Fahrzeugs ist, macht Sinn."
Simples Beispiel: Wenn der Assistent, der kontrolliert, ob der Laster innerhalb der Fahrspur unterwegs ist, auf der Fahrt durch die kilometerlange Autobahnbaustelle permanent piepst, weil die aufgezeichnete Fahrspur für den Laster schlicht zu eng ist, kann das den Fahrer stark ablenken. Dann hilft es, das System abschalten zu können.
Als die Regelungen für AEBS im Entstehen waren, habe sich sein Verband dafür eingesetzt, dass sich AEBS eine gewisse Zeit, nachdem es abgeschaltet wurde, selbstständig wieder einschaltet, berichtet Bulheller. Der Verband setzte sich aber nicht durch.
Anschläge mit Autos gab es schon in der Vergangenheit
Dass Fahrzeuge als Mordwaffe missbraucht werden, ist nicht neu. Allein 2008 gab es in Israel drei Anschläge durch Palästinenser mit Radladern und anderen Fahrzeugen. Mehrere Menschen starben. 2014 fuhr ein Palästinenser mit einem Bagger in eine Menschentraube. Ein Mann starb, fünf Menschen wurden verletzt. Im selben Jahr überfuhr ein anderer Palästinenser eine Frau und ein Baby und verletzte sieben Menschen, als er in eine Menschenmenge raste.
Neu ist, dass die Attentäter statt zu Autos und Baufahrzeugen zu 40-Tonnern greifen. Und entsprechend viele Menschen auf einmal in den Tod reißen. Dem jüngsten Anschlag mit einem Laster fielen am Montag in Jerusalem vier Menschen zum Opfer. In Berlin starben elf Menschen, in Nizza 86, als am französischen Nationalfeiertag im Juli ein Attentäter einen Lastwagen in die Menge der Feiernden steuerte.
IS-Magazin empfiehlt Laster als Waffe
Hintergrund für die Reihung der Anschläge mit Lastwagen dürfte sein, dass die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ihren Anhängern den Lastwagen jüngst als Waffe angepriesen hat: Das IS-Magazin Rumiyah hat ein detaillierte Anleitung dazu veröffentlicht - bebildert mit einer Kollage aus einem Foto des Anschlags von Nizza und einem Foto eines Lasters der Autovermietung Hertz.
"Es war und ist für die Firma Hertz unerträglich, den eigenen Markennamen samt Logo in diesem Zusammenhang sehen zu müssen", teilt das Unternehmen auf Nachfrage mit. Rechtliche Schritte gegen den Urheber einzuleiten sei seitens Hertz Deutschland "allerdings nicht möglich" gewesen.
Lkw-Hersteller ist bestürzt
Auch beim Lkw-Hersteller MAN Truck & Bus beobachtet man "mit großer Bestürzung", wie die eigenen Produkte zum potenziellen Hilfsmittel von Terroristen werden. Das Unternehmen hofft, dass in einigen Jahren die Fuhrparks aller Unternehmen erneuert und flächendeckend alle Lastwagen mit AEBS ausgestattet sind. Mehr Handhabe gebe es derzeit nicht.
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