- Seitdem sich das Militär Anfang Februar in Myanmar an die Macht geputscht hat, kommt das Land nicht mehr zur Ruhe
- An vielen Orten kommt es täglich zu Demonstrationen, die das Regime mit zunehmender Gewalt zu ersticken versucht.
- Im Gespräch mit unserer Redaktion schildert der deutsche Aktivist und Koch Oliver Esser Soe Thet, was er täglich vor Ort erlebt.
Die Proteste nach dem Militärputsch in Myanmar reißen nicht ab, während das Regime immer brutaler gegen die Demonstranten vorgeht. Allein am Sonntag wurden 74 Menschen getötet. Über Teilen des Landes wurde Kriegsrecht verhängt.
Seit der Machtübernahme durch das Militär gehen die Menschen täglich zu Hunderttausenden auf die Straße und fordern die Freilassung der demokratisch legitimierten Regierungschefin Aung San Suu Kyi. Eine Gruppe Abgeordneter, die sich seit dem Putsch versteckt hält, agiert als eine Art Gegenregierung und ermutigt die Bevölkerung zum Widerstand.
Der deutsche Koch und Umweltschützer Oliver Esser Soe Thet lebt seit 1995 in Myanmar und setzt sich als Mitglied der Hilfsorganisation "World Chefs Without Borders" – im Interview mit "Chefs" abgekürzt – für Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz ein.
Herr Esser Soe Thet, wie nehmen Sie die aktuelle Situation in Myanmar wahr?
Oliver Esser Soe Thet: Die Menschen in Myanmar wollen nicht in die Dunkelheit einer burmesischen Militärdiktatur zurück. Die schlimmen Erinnerungen an das frühere Militärregime treibt sie auch heute wieder auf die Straßen, auch wenn an manchen Tagen Dutzende Demonstranten getötet werden. Menschen, die seit 2004 gelernt haben, kritisch zu denken, die seit 2011 Licht am Ende des Tunnels von 60 Jahren Militärmacht, Korruption, Unrecht, Vergewaltigungen und Zerstörungen gesehen haben und zuletzt fünf Jahre lang lebendige Demokratie erfahren haben, die Entwicklung und Fortschritt in allen Lebensbereichen erlebt haben, stehen seit dem 1. Februar wieder im Dunkel der Diktatur-Hölle. Die Menschen wissen, dass das, was heute passiert, erst der Anfang ist und wozu das Militär noch in der Lage ist. Sowohl muslimische Rohingyas als auch buddhistische Arakanesen mussten in ihren Dörfern täglich mit Angst und Unsicherheit leben. Mädchen und gar Großmütter wurden vergewaltigt, ganze Dörfer abgebrannt, Menschen – auch Kinder – verschleppt. Ich will nicht sagen, dass das die gesamte Myanmar-Armee oder jeder Soldat ist, aber mit all den schnellen Medien und der heutigen Transparenz ist klar, dass sich die burmesische Armee selbst nicht unter Kontrolle hat. In den oberen Rängen geht es darum, Macht und Geld zu sichern, nach unten wird getreten.
Was erleben Sie in Ihrem direkten Umfeld?
Als Nicht-Myanmare ist man überall schnell erkannt und wird von allen Menschen gebeten, Hilfe zu holen, um die Bevölkerung vor der eigenen Armee zu schützen. In den Seitenstraßen, wo wir wohnen, wurden wir am 28. Februar das erste Mal vom Militär begast. Das ist eine reine Wohngegend mit 600 Kindern und alten Menschen, die nicht protestieren. Soldaten versuchen nachts, Demonstranten zu finden und mit Waffengewalt aus den Häusern zu holen. Sie schießen auf Menschen, die die Soldaten filmen. Direkt gegenüber von uns wurden fünf junge Mädchen abgeholt. Keiner weiß, was mit ihnen passiert ist. Die Armee informiert nur, wenn die Familie die Toten abholen kann. Die Nachbarschaften haben eigene Sicherheitsteams aufgebaut, die 24 Stunden am Tag in Dreiergruppen Wache halten. Wenn Soldaten nachts kommen und Menschen festnehmen wollen, geht eine Lautsprecheranlage im Kloster los, um alle zu warnen. Dann gehen 600 bis 700 Menschen auf die Straße, damit die Soldaten in der Minderheit sind. Frauen sind oft ganz vorne dabei. Um 20 Uhr wird seit fünf Wochen auf Töpfen und Blechen getrommelt. Wir auch, ich bin ein alter Schlagzeuger und komme wieder richtig in Übung. Der Effekt: Seit fünf Wochen sieht kein Myanmare mehr die Abendnachrichten im Fernsehen.
"Sie schießen gezielt auf Kopf und Hals"
Wie viel bekommen Sie von den Demonstrationen direkt mit?
In den ersten zwei Wochen waren wir mit den Chefs – das sind einige Hundert im Land – bei den Demonstrationszügen in erster Reihe dabei. Nachdem die Exekutionen angefangen hatten, sind wir mehr in der zweiten Reihe aktiv und kochen für die Menschen. Nährende und gesunde Mahlzeiten sind unsere friedlichen Waffen. Seit der vierten Woche wird aber auch das gefährlicher. Das Vorgehen gegen die Demonstranten wird immer gewalttätiger.
Das bedeutet?
Das Militär setzt scharfe Munition gegen die jungen Leute ein. Sie schießen gezielt auf Kopf und Hals. Das sind teilweise noch Kinder, die sich mit Blechschilden zu schützen versuchen, mit Wasserbeuteln und Feuerlöschern die Gasgranaten neutralisieren und das Brennen im Gesicht und in den Augen mit Cola beseitigen. Dabei sind die Demonstranten immer noch friedlich, singen für ihre Freiheit und rufen nach Freiheit für Aung San Suu Kyi. Das macht sie für die burmesische Armee zu Kriminellen. So viele Gesetze und Regeln wurden geändert. Man darf Wörter wie Putsch, Diktatur, Militärjunta nicht mehr benutzen – das kann einen schnell mal für zwei Jahre ins Gefängnis bringen.
Wie macht sich der Generalstreik im Alltag bemerkbar?
Die Folgen des Streiks spürt man vor allem bei den Banken, die trotz der Armee-Order, am 8. März aufzumachen, immer noch geschlossen sind. Firmen können keine Löhne zahlen, weil sie nicht an das Geld kommen. Der Diesel- und Benzinpreis ist um 35 Prozent gestiegen. Züge fahren seit Wochen nicht mehr, Container werden nicht befördert, weil die Fahrer streiken. Krankenhäuser sind von Soldaten besetzt, um verletzte Demonstranten gleich ins Gefängnis zu bringen. Ärzte und Pfleger behandeln sie in privaten Kliniken oder bei Angeschossenen zu Hause. Kein Hotel, keine Reiseagentur vor Ort will in Zusammenhang mit dem Ministerium der Militärregierung gebracht werden, weil internationale Touristen sie boykottieren würden. Einige europäische Reiseanbieter müssen sehr aufpassen, weil sie noch die Hotels in Armeebesitz im Programm haben. Die COVID-19-Bekämpfung ist komplett zusammengebrochen. Es wird fast nicht mehr getestet. Die Zeitungen veröffentlichen schon gar keine Zahlen mehr. Die Impfkampagne war unter Aung San Suu Kyi sehr gut angelaufen, nach der Machtübernahme durch das Militär kommt auch das ins Stocken.
Warum ziehen Sie sich während dieser gefährlichen Lage nicht nach Deutschland zurück?
Die deutsche Regierung würde mir und meiner Familie helfen. Sie haben mich schon zweimal angerufen. Für mich wäre eine Abreise jetzt aber wie ein Weglaufen und wie die Chefs, unser Personal und die Menschen einfach allein zu lassen. Ich würde nie kämpfen und habe auch keinen Wehrdienst geleistet. Aber in den letzten Wochen habe ich – genau wie während der Diktatur von 1995 bis 2010 oder dem Mönchsaufstand 2007 – immer wieder gespürt, dass man als offensichtlicher Ausländer, der bei und mit den Menschen ist, Hoffnung und Halt ausstrahlt. Was planen Sie? Außerdem ist es wichtig, dass gerade jetzt unsere Projekte für eine bessere Zukunft weitergehen.
Was planen Sie?
Wir wollen gemeinsam mit anderen Chefs schnell Wege finden, wie Bildung und Ausbildung für die jungen Leute weiterlaufen können. Mit dem Aufforstungsprojekt ist es das Gleiche: Die Mangrovensetzlinge können wir nur in den nächsten drei bis sechs Wochen ernten, um sie in die Flüsse und an der Küste einzupflanzen. Wir dürfen jetzt nicht alles fallen lassen. Zu viel ist schon kaputtgegangen von den guten Ansätzen, die in der Zeit der Demokratie unter der Führung von Präsident Thein Sein und Daw Aung San Suu Kyi begonnen wurden.
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