In Syrien sind heftige Kämpfe zwischen Anhängern der gestürzten Regierung und den neuen Machthabern ausgebrochen. Es gibt Berichte über Massaker an Zivilisten.

Mehr aktuelle News

Drei Monate nach dem Machtwechsel in Syrien sind laut Aktivisten mehrere Hundert Menschen bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten Langzeitherrschers Baschar al-Assad getötet oder verletzt worden.

Sicherheitskräfte der neuen Regierung haben Aktivisten zufolge mindestens 340 Zivilisten getötet. Alleine in der Stadt Banias seien 60 Zivilisten durch Erschießungen hingerichtet worden, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Unter den getöteten Zivilisten sind offenbar auch Frauen und Kinder.

Die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle, die den Konflikt über ein Netzwerk von Informanten verfolgt, sprach von Massakern in mindestens 21 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus und Hama. Die westlichen Küstenregionen gelten als Hochburgen der Alawiten, einer religiösen Gemeinschaft, der auch der gestürzte Machthaber Baschar al-Assad angehört.

Bewohner der Küstenregion in Panik

Ein Bewohner aus der betroffenen Region sagte, vor allem unter den Alawiten seien Angst und Schrecken weit verbreitet. "Es gibt viele Übergriffe und Tötungen aufgrund der Religionszugehörigkeit. Es kommt auch zu Diebstählen."

Die Beobachtungsstelle rief die internationale Gemeinschaft zum dringenden Handeln auf und forderte die Entsendung von Experten, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Zudem appellierte sie an die syrischen Behörden in Damaskus, die Verantwortlichen für die Hinrichtungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Zivilisten seien auf eine Art und Weise getötet worden, "die sich nicht von den Operationen der Sicherheitskräfte des ehemaligen Regimes unterscheidet – ein kollektiver Akt der Vergeltung", hieß es in einem Bericht der Beobachtungsstelle.

Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa wandte sich am Freitagabend an die Bevölkerung. Überbleibsel der gestürzten Ex-Regierung hätten mit Angriffen versucht, "das neue Syrien zu testen". Al-Scharaa lobte die Reaktion der Sicherheitskräfte und rief die Angreifer auf, ihre Waffen niederzulegen. Jeder, der Übergriffe gegen Zivilisten begehe, werde hart bestraft, kündigte der frühere Rebellenchef zugleich an. Berichte über Massaker erwähnte er nicht.

Berichte über Massaker in Syrien

Der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, zeigte sich "zutiefst besorgt". Er rief in einer Mitteilung alle Seiten auf, von Handlungen abzusehen, "die die Spannungen weiter anheizen, den Konflikt eskalieren, das Leid der betroffenen Gemeinschaften verschlimmern, Syrien destabilisieren und einen glaubwürdigen und integrativen politischen Übergang gefährden könnten". Der Schutz der Zivilbevölkerung müsse gemäß dem Völkerrecht gewahrt werden.

"Es wurden Massaker an der alawitischen Religionsgemeinschaft verübt", sagte der Direktor der Beobachtungsstelle, Rami Abdel-Rahman, der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Aktivisten aus der Stadt Idlib, mit denen die dpa sprechen konnte, machten bewaffnete Unterstützer der Übergangsregierung dafür verantwortlich. Sie sollen sich Befehlen aus Damaskus widersetzt haben.

Dagegen meldete das syrische Staatsfernsehen, dass sich Unbekannte mit Uniformen der Regierungstruppen verkleidet und die Taten begangen haben sollen, um einen Bürgerkrieg anzustiften.

Erster großer Test für Übergangspräsident al-Schaara

Geheimdienstchef Anas Chattab hatte die eigenen Kämpfer zur Zurückhaltung aufgerufen. Übergangspräsident al-Scharaa rief "alle Kräfte, die sich an den Kämpfen beteiligt haben" auf, sich den Befehlshabern des Militärs zu unterstellen und "die Stellungen unverzüglich zu räumen, um die aktuellen Verstöße zu kontrollieren". Für den früheren Rebellenchef sind die Auseinandersetzungen der erste große Test seit der Machtübernahme.

"Die Überbleibsel des alten Regimes nutzen die begrenzten militärischen und sicherheitspolitischen Kapazitäten der syrischen Regierung aus, um den politischen Übergang in Syrien zu behindern", erklärte Lina Khatib von der Denkfabrik Chatham House dem "Wall Street Journal". Al-Schaaras Regierung stehe vor dem Dilemma, hart genug gegen Anhänger Al-Assads vorzugehen, um einen ausgewachsenen Aufstand zu verhindern - ohne aber die Alawiten zu verprellen, die um ihre Zukunft bangten und Angriffe erlebten, so die Zeitung.

Geheimdienstchef Chattab machte führende Figuren aus dem Militär- und Sicherheitsapparat des gestürzten Ex-Präsidenten für die Zusammenstöße verantwortlich. Diese hätten eine verräterische Operation gestartet, bei der Dutzende Mitglieder von Armee und Polizei getötet worden seien. Sie würden aus dem Ausland gesteuert, schrieb Chattab auf der Onlineplattform X. Tausende Menschen hatten sich in Damaskus und etlichen anderen Städten versammelt, um gegen die bewaffneten Anhänger al-Assads zu demonstrieren.

Kämpfe im Kernland der Alawiten

Viele Menschen forderten, die bewaffneten Angriffe zurückzuschlagen. Die Sicherheitskräfte gehen laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana vor allem entlang der Mittelmeerküste, dem Kernland der alawitischen Minderheit, gegen Anhänger al-Assads vor. In der gebirgigen Küstenregion sind noch bewaffnete Gruppen mit Verbindungen zu der gestürzten Vorgängerregierung aktiv.

Unter anderem in der Stadt Dschabla etwa 25 Kilometer südlich von Latakia, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, soll es zu schweren Gefechten gekommen sein. Laut Sana wehrten Sicherheitskräfte in Latakia einen Angriff auf ein Krankenhaus ab. Für die Stadt und auch die weiter südlich gelegene Küstenstadt Tartus wurden bis Samstagvormittag Ausgangssperren verhängt.

Nach Angaben eines Offiziers verlegte die Übergangsregierung am Freitag größere Truppenkontingente in die Küstenregion. Seitens der Regierungstruppen seien Artilleriegeschütze, Panzer und Raketenwerfer eingesetzt worden. Insgesamt starben bei den Kämpfen nach Angaben der Beobachtungsstelle für Menschenrechte bislang mindestens 237 Menschen.

Assad hatte Syrien mehr als zwei Jahrzehnte regiert. Nach einer Blitzoffensive unter Führung der Islamistengruppe HTS Ende vergangenen Jahres floh er nach Russland. Die neue Übergangsregierung unter Führung von al-Scharaa versucht seitdem die Sicherheit im Land wiederherzustellen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Al-Scharaa versprach bei Amtsantritt, alle Gruppen in dem Land in einen Prozess der politischen Erneuerung einzubeziehen und Menschenrechte zu achten. Er hofft damit auf Aufhebung westlicher Sanktionen gegen Syrien.(dpa/bearbeitet von spl und tas)

Teaserbild: © picture alliance/dpa/Moawia Atrash