Bereits 200 Soldaten und drei Dutzend Zivilisten sollen ums Leben gekommen sein: Seit Ende September ist der – eigentlich mit einem Waffenstillstandsabkommen beruhigte – Konlfikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wieder ausgebrochen. Worum geht es in dem Konflikt? Und wie reagieren die Regionalmächte Türkei und Russland?
Aufnahmen von brennenden Panzern, schweren Gefechten und explodierenden Lkw: Die Bilder, die dieser Tage aus Armenien und Aserbaidschan um die Welt gehen, geben Anlass zur Sorge.
Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt war Ende September wieder ausgebrochen. Zwar hatte ein Waffenstillstandsabkommen im Jahr 1994 den Konflikt eingefroren. Doch insbesondere das Grenzgebiet war weiterhin im Kriegszustand. Die Situation im Grenzgebiet ist nun eskaliert – und könnte mit der Einmischung der Türkei noch gefährlicher werden. Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan haben das Kriegsrecht verhängt. Was ist passiert?
Warum kämpfen Armenien und Aserbaidschan?
Armenien und Aserbaidschan streiten um die Region Bergkarabach. Der De-facto-Staat "Republik Bergkarabach" wird von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. Dort leben mittlerweile hauptsächlich Armenier, ihre militärischen Streitkräfte kontrollieren das Gebiet. Die Vereinten Nationen und der Europarat erachten Bergkarabach jedoch als Bestandteil Aserbaidschans.
Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion entfachte der Kampf um das Gebiet. Denn Bergkarabach ist sowohl bei Armenieren als auch bei Aseri ein wichtiger Bestandteil des nationalen Narratives sowie ihrer Identitäten und Selbstbehauptung. Die Region war jahrhundertelang ethnisch, historisch und kulturell gemischt: Sie stand unter der Vorherrschaft armenischer Fürstentümer, von Turk-Stämmen, Kurden, Persern und Arabern.
Was fordern und beanspruchen die beiden Länder?
In beiden Ländern ist die Region wie auch der Konflikt selbst ein zentraler innenpolitischer Faktor. Armenien begründet seinen Anspruch auf Bergkarabach damit, dass seit dem Mittelalter mehrheitlich Armenier in der Region gelebt hätten; der Zuzug von Aserbaidschanern sei erst zu Zeit der UdSSR erfolgt. Wichtig sind Jerewan die aus dieser Zeit stammenden armenisch-orthodoxen Kirchen, auch nationale Geschichtserzählungen ranken sich um kämpferische Karabach-Armenier.
Armeniens Forderung ists deshalb: Sicherheitsgarantien für den De-Facto-Staat sowie eine international anerkannte Landbrücke zwischen Armenien und Bergkarabach.
Aserbaidschan sieht das anders: Baku blickt bei der historischen Argumentation vor allem auf die Zeit des "Khanat Karabach" – einem Staat im heutigen Aserbaidschan, der bis ins 18. Jahrhundert bestand, sich lange gegen Persien behaupten konnte und armenische Fürstentümer unterwarf. Aber auch zu Sowjetzeiten gehörte Bergkarabach als "autonomer Oblast" zur aserbaidschanischen Teilrepublik.
Baku fordert deshalb die Rückgabe von Bergkarabach und anderer von Armenien besetzte Gebiete – insgesamt 13,6 Prozent seiner Landesfläche. Von einem Friedensplan der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung in Europa (OSZE) konnten beide Seiten nicht überzeugt werden: Dieser sah den Abzug der armenischen Streitkräfte vor, bei gleichzeitigen Autonomiegarantien für die armenische Bevölkerung und die Perspektive auf Unabhängigkeit von Aserbaidschan.
Woher rührt dieser Konflikt?
Die Wurzeln des Konfliktes sind alt, militärisch entzündete er sich aber vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Seitdem hat der Konflikt bereits mehreren Zehntausend Menschen das Leben gekostet. Als erstmaliger Auslöser für den Karabachkrieg gilt das Referendum von 1988, in dem Bergkarabach für die Zugehörigkeit zu Armenien stimmte. Proteste in Aserbaidschan waren die Folge. In deren Zuge kam es auch zu Massaker an dort lebenden Armeniern mit mehreren Dutzend Toten.
Moskau entglitt zunehmend die Kontrolle über Armenien und Aserbaidschan, als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, begann ein offener Krieg zwischen den beiden inzwischen unabhängig gewordenen Ländern. Zu einer Waffenstillstandsvereinbarung kam es erst 1994. Armenien hatte bis dahin Bergkarabach und aserbaidschanische Gebiete zwischen der Exklave und der armenischen Grenze besetzt (siehe obenstehende Karte) und hunderttausende Aserbaidschaner vertrieben.
Warum flammt der Streit jetzt wieder auf?
Trotz der Vereinbarung von 1994 zählen OSZE-Beobachter jährlich etwa 20 bis 30 Waffenstillstandsverletzungen. Diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen nicht, die Grenze ist dicht. Der "Viertägige Krieg" im Jahr 2016 galt als schlimmste Verschärfung des Konfliktes seit den 1990er Jahren – bis jetzt.
Dass der Streit nun wieder aufflammt, hatte sich schon im Juli dieses Jahres abgezeichnet: Damals kam es zu Gefechten zwischen Soldaten an der international anerkannten Grenze beider Länder. Bei der politischen Führung in Aserbaidschan herrscht Frustration: Während Armenien seit dem Waffenstillstand seine Kontrolle immer weiter festigen konnte, hat Baku wenig vorzuweisen. Bis auf Destabilisierung durch militärische Intervention bleiben dem Land außerdem keine Hebel, um etwas in Bewegung zu setzen.
Welche Rolle spielen die Schutzmächte Russland und Türkei?
Weltweite Aufmerksamkeit bekommt der Konflikt vor allem aus einem Grund: Der Kaukasus ist ein geopolitisches Schachbrett, auf dem vor allem die Regionalmächte Russland und Türkei mitspielen.
Beide profitieren davon, dass Armenien und Aserbaidschan ihre Bewaffnung vorantreiben. Ankara versorgt Aserbaidschan, Moskau gleich beide Länder mit Waffen. Armenien ist zwar Mitglied in dem von Russland angeführten Militärbündnis OKVS und Moskau begreift sich als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepublik, so unterhält es dort einen Militärstützpunkt. Russland stellt sich aber nicht mit aller Entschlossenheit hinter Jerewan.
Die Türkei hingegen hat Baku militärische Unterstützung zugesagt: Nicht nur, weil das christliche Armenien als historischer "Erzfeind" gilt und die Türkei Aserbaidschan als "muslimischen Bruderstaat" sieht, sondern auch wegen der dortigen Öl- und Gasvorkommen.
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Was für eine Strategie verfolgen Putin und Erdogan?
Das Eskalationspotenzial des Konfliktes ist hoch: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat schon bei den Gefechten im Juli unter Beweis gestellt, dass er bereit ist zu zündeln. Damals ermunterte er den aserbaidschanischen Diktator Ilham Alijew zu militärischen Handlungen, entsandte Berater und ließ über eigene Regierungsvertreter verlauten, die Armenier würden "definitiv für ihre Aktionen bezahlen".
Um sich als Regionalmacht in der Tradition des Osmanischen Reiches zu etablieren, ist Erdogan offenbar bereit, die Türkei in eine weitere militärische Konfrontation zu treiben. Türkische Soldaten sind derzeit schon im Kurdengebiet, in Nordsyrien, im Nordirak, in Libyen und im Mittelmeer aktiv. Dennoch provoziert Erdogan weiter.
Experten vermuten, dass Ankara auf russische Zugeständnisse in Libyen und Syrien spekuliert, außerdem innenpolitisch nationalistische Gefühle stärken will. Allerdings riskiert Erdogan auch Spannungen im eigenen Land: Denn auch in der Türkei leben Armenier.
Am Donnerstag hatte neben US-Präsident Donald Trump und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auch Russlands Präsident Wladimir Putin erneut an die Konfliktparteien appelliert, die Kampfhandlungen einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Sechs Tage nach Beginn heftiger Kämpfe hat sich am Freitag zumindest Armenien zu Waffenstillstands-Verhandlungen mit Aserbaidschan bereit. Armenien stehe "bereit" für Gespräche innerhalb der sogenannten Minsk-Gruppe der OSZE.
Verwendete Quellen:
- Bundeszentrale für politische Bildung: "Nagorny-Karabach"
- OSZE-Jahrbuch 2006: "Der Konflikt um Berg-Karabach: Ursachen, Verhandlungsstand und Perspektiven"
- mit Material der Nachrichtenagentur AFP
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