Der sogenannte "Islamische Staat" steht mit dem Rücken zur Wand. Sollte die Terrormiliz auch die irakische Millionenstadt Mossul verlieren, wäre vom Staatsgebiet des "Kalifats" nicht mehr viel übrig. Was aber unterscheidet den IS dann noch von Al-Kaida & Co.? Einiges, meinen Experten. Warum der IS als Ideologie gefährlich bleibt.
Die reichste und mächtigste Terrororganisation der Welt muss einen Rückschlag nach dem anderen einstecken. Sollte in den kommenden Monaten die irakische Millionenstadt Mossul durch die Anti-IS-Allianz zurückerobert werden, wäre vom 2014 ausgerufenen "Kalifat" nicht mehr viel übrig.
Laut Angaben von US-Verteidigungsminister Ashton Carter seien auch die ersten Vorbereitungen für einen Angriff auf die syrische IS-Hochburg Rakka angelaufen. Mehr als ein Drittel ihres Territoriums in Syrien und im Irak haben die Dschihadisten wieder verloren. In einigen Wüstengebieten üben sie ohnehin nur lose Kontrolle aus.
Es sieht danach aus, als würde sich der "Islamische Staat" nach dem Verlust seiner Gebiete wieder zu einer einfachen Terrororganisation wie Al-Kaida verwandeln. Wäre das tatsächlich ein Rückschlag für die Attraktivität der Miliz? Oder wäre die IS-Ideologie weiterhin so stark, dass der Verlust der Staatlichkeit ihrer Anziehungskraft keinen Abbruch tun würde?
Ideologische Überlegenheit
Rainer Hermann, Nahost-Experte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", glaubt nicht an ein schnelles Ende der IS-Vorherrschaft im globalen Terror-Wettstreit. "Die Vorstellung der IS-Anhänger ist, dass der Verlust von Mossul nur eine Zwischenetappe ist", sagt der Journalist und Autor im Gespräch mit unserer Redaktion. Anstatt des nahen Endkampfs sollen die IS-Kämpfer sich nun "auf einen langen Krieg einstellen, bevor sie die Apokalypse herbeiführen", erklärt Hermann, der 2015 sein Buch "Endstation Islamischer Staat?" veröffentlichte.
Auch im Wettstreit der Ideen sieht Hermann den "Islamischen Staat" im Vorteil. Er habe eine "ausgefeiltere Ideologie des weltweiten Jihad entwickelt, die andere Gruppen nicht haben."
Nicht nur in Syrien und im Irak beherrscht er große Landstriche: IS-Ableger finden sich unter anderem in Libyen, Tunesien, Ägypten, Jemen und Saudi-Arabien. Viele lokale Dschihadisten-Gruppen haben dem selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen, etwa Boko Haram in Nigeria.
Die Ideologie ist mittlerweile in vielen Ländern Afrikas und Asiens fest verankert. "Gerät der IS irgendwo in der Defensive, können andere Provinzen immer noch handeln", erklärt Hermann.
Seine ideologische Überlegenheit und sein weltweiter Führungsanspruch machen den IS aus Sicht vieler Dschihadisten attraktiver als andere Terrorgruppen. 2014 hatte die Gruppierung, deren Vorgängerorganisation aus Al-Kaida hervorgegangen war, allmählich die Vorherrschaft im globalen Terror-Wettstreit übernommen.
Durch die Ausrufung des "Kalifats", großflächige Eroberungen in Syrien und dem Irak sowie blutigen Anschläge. Mit ihrer professionellen Propaganda - dagegen wirken die Videos von Al-Kaida eher altbacken - konnte und kann die Miliz rasch auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren. Wie es derzeit wieder der Fall ist.
IS kehrt in "liquide Form" zurück
Der Verlust des Territoriums macht den "Islamischen Staat" aus Sicht vieler Experten nur noch gefährlicher. Das verheißt auch für Europa nichts Gutes. "Man sollte nicht glauben, dass der IS nun in einem Monat besiegt ist. Das ist noch ein langer, steiniger Weg", sagte kürzlich der Terrorismus-Experte Curt Covi vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel im Gespräch mit unserer Redaktion.
Der IS könne jederzeit wieder in seine "liquide Form" zurückkehren und sich auf den Guerillakrieg in Irak und Syrien sowie Anschläge im Ausland konzentrieren. "Geschehen ein paar große Terroranschläge in seinem Namen, ist wieder eine Attraktivität gegeben", sagt FAZ-Journalist Hermann.
Der IS-Experte Bruno Schirra ist überzeugt, dass durch die Gebietsverluste Tausende gestrandete Terroristen "nach Europa zurückkehren und Anschläge durchführen" werden. Selbst den Einsatz von chemischen Waffen hält er für denkbar.
Terrorwettstreit zwischen IS und Al-Kaida?
Könnte es gar zu einem blutigen Terror-Wettstreit zwischen dem IS und Al-Kaida in Europa kommen? Rainer Hermann hält das für unwahrscheinlich. "Nein, es gibt keine Zeichen dafür, dass ein Terrorwettkampf einsetzt. Bei Charlie Hebdo haben sie ja zusammengearbeitet. Das war ein Hinweis darauf, dass es eine Verschmelzung geben könnte."
So oder so deutet derzeit wenig darauf hin, dass der IS seinen Status als mächtigste Terrororganisation der Welt verlieren könnte. Trotz der Gebietsverluste, trotz des nahenden Endes seiner Staatlichkeit. Die Schwäche der Konkurrenz, die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak und vor allem das Chaos in Syrien stehen dem im Wege. "So lange der IS in Syrien einen Rückzugsraum hat", erklärt Rainer Hermann, "wird er sich immer wieder leicht reorganisieren."
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