In der CSU-Zentrale überschlagen sich in der Nacht auf Montag die Ereignisse. Horst Seehofer will als Konsequenz aus dem Asylstreit mit der Kanzlerin zurücktreten, verbindet den Rücktritt aber mit einem finalen Entscheidungstreffen mit Merkel am Montag. Damit versucht er, den Schwarzen Peter der CDU-Vorsitzenden zuzuschieben. Nur eine kleine Hintertür gibt es noch - sonst zerbricht wohl die Koalition.

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Die CSU-Vorstandssitzung dauert schon fast acht Stunden, als Horst Seehofer die Bombe platzen lässt.

Eigentlich rechnet jeder damit, dass der Bundesinnenminister Kanzlerin Angela Merkel (CDU) herausfordert, dass er Ernst macht und im Alleingang Zurückweisungen bestimmter Flüchtlinge an den Grenzen anordnet.

Doch dann kündigt Seehofer völlig überraschend an, seine beiden Ämter aufgeben zu wollen - Parteivorsitz und Ministeramt in Berlin.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt reagiert am schnellsten, erhebt sofort vehement Einspruch. "Das ist eine Entscheidung, die ich so nicht akzeptieren kann", sagt er nach Teilnehmerangaben - und bekommt lang anhaltenden Applaus.

Letztlich habe die Uneinsichtigkeit der Kanzlerin die CSU in die jetzige Situation gebracht, schimpft Dobrindt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass einige im Vorstand in der Situation eine überflüssige Inszenierung sehen.

In der Folge wird die Sitzung für rund zwei Stunden unterbrochen, die engste Parteispitze zieht sich mit Seehofer zu Beratungen zurück.

Mit dabei unter anderem Dobrindt, Seehofers Vizes, Ministerpräsident Markus Söder, aber auch der Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber. Der engste Zirkel will Seehofer zum Weitermachen überreden.

Ball des Handelns liegt jetzt im Feld der Kanzlerin

Aber dieser scheint entschlossen. Am Ende willigt Seehofer doch ein, an diesem Montag in Berlin einen Zwischenschritt einzuschieben, ein letztes Gespräch mit der CDU zu führen.

Ein Entgegenkommen seinerseits, wie er es nennt: "Sonst wäre das heute endgültig gewesen." Die CSU sei weiter gewillt, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung zu erhalten.

Wieder ein Ultimatum gegen Merkel? Immerhin liegt der Ball des Handelns nun in ihrem Feld, sie muss nun die finale Entscheidung treffen - und hätte im Zweifelsfall die Verantwortung für einen Bruch der Unionsgemeinschaft und damit der Regierungskoalition zu tragen.

Nach einiger Wartezeit gibt auch die CDU-Spitze grünes Licht für das Gespräch.

Es soll am Montagabend stattfinden, ist die letzte Chance auf eine Einigung - und damit eine äußerst kleine Hintertür, durch die Seehofer und Merkel gehen könnten - um beide das Gesicht zu wahren.

Eine Beilegung des Asylstreits auf den letzten Metern also? Möglich. Aber nur, wenn sich jetzt auch Merkel bewegt. Wie wahrscheinlich das ist? Nicht einzuschätzen.

So lief der entscheidende Abend

Im Vorstand hatte Seehofer skizziert, welche Möglichkeiten er und die CSU überhaupt haben: Entweder die CSU beuge sich dem Kurs von Merkel in der Asylpolitik.

Oder er ordne als Innenminister die Zurückweisung bestimmter Migranten an der deutschen Grenze an - mit allen damit verbundenen Gefahren für den Fortbestand der Koalition.

Das aber will Seehofer offenbar nicht, obwohl der CSU-Vorstand genau das vor weniger als zwei Wochen an gleicher Stelle beschlossen hat.

Seehofer will nicht derjenige sein, der für das mögliche Aus von Fraktionsgemeinschaft, Koalition und Bundesregierung verantwortlich gemacht wird.

Deshalb präsentiert er seine dritte Option: Er trete in den kommenden drei Tagen als Parteichef und Minister zurück - und das habe er auch vor zu tun. Er werde am Mittwoch 69 Jahre alt, und er habe viel erreicht. "Ich will mich nicht entlassen lassen", zitieren Vorstandsmitglieder Seehofer.

Es ist nicht das erste Mal, dass Seehofer von der engsten Parteispitze von einem sofortigen Rücktritt abgehalten würde: Nach dem Bundestagswahl-Fiasko war er schon bereit, seine Ämter als Parteichef und bayerischer Ministerpräsident zur Verfügung zu stellen.

Die engste Parteispitze verhinderte das. Am Ende gab Seehofer nur das Ministerpräsidenten-Amt an Markus Söder ab, blieb Parteichef und wurde im März 2018 neuer Bundesinnenminister.

Seehofer erst wortkarg, dann deutlich

Doch diesmal ist es ernster. Das ist schon am Mittag erkennbar, als Seehofer in der Parteizentrale ankam. Kein Wort sagt er, nichts, keinen Ton. Nicht einmal ein "Grüß Gott". Das gab es so noch nie. Wortlos geht er mit versteinerter Miene an den Kameras und Mikrofonen vorbei, ab in den Aufzug, fährt in die Chefetage der CSU-Zentrale.

Es sind die entscheidenden Stunden im erbitterten Asylstreit von CDU und CSU. Da ist die große Frage noch: Wird es am Ende eine wenigstens gesichtswahrende Lösung für beide Seiten geben? Oder läuft es - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - doch auf den Bruch der Koalition, der Unions-Fraktionsgemeinschaft und der Bundesregierung hinaus?

Schon kurz nach Beginn der CSU-Sitzung wird deutlich: Es gibt keine Zeichen einer Entspannung, keine Kompromisssignale. Im Gegenteil: Seehofer macht unmissverständlich deutlich, was er von Merkels EU-Gipfel-Ergebnissen hält: nichts.

Seehofer: Merkels Gipfel-Ergebnisse nicht wirkungsgleich

In einem etwas mehr als einstündigen Vortrag zerpflückt er alle wichtigen Kerninhalte der EU-Einigung, mit denen die Kanzlerin nach eigenen Worten selbst immerhin "einigermaßen" zufrieden ist. Bei Seehofer ist von Zufriedenheit nichts zu erkennen.

Die Gipfelergebnisse seien kein "wirkungsgleiches Surrogat" (kein gleichwertiger Ersatz) zu Zurückweisungen an der Grenze. Sein Treffen mit Merkel am Vorabend? Ein "wirkungsloses Gespräch", berichtet er.

Seehofer zerrupft auch Merkels Vorschlag, Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, in den geplanten Ankerzentren unterzubringen. Deutschland würde damit die Zuständigkeit vom eigentlich zuständigen EU-Land übernehmen.

"Es geht hier auch um die Glaubwürdigkeit eines Vorsitzenden", sagt der CSU-Chef nach Angaben von Teilnehmern. Und dann, nach fast acht Stunden Debatte mit mehr als 50 Wortmeldungen, zieht er demonstrativ die Notbremse.

In der CDU-Spitze erleben sie das Hin und Her bei der kleinen Schwester mit fast ungläubigem Staunen, tief in der Nacht vertagt sich das Gremium schließlich. Selbst wenn es bei Seehofer einen Rückzug vom Rückzug geben sollte, könne dies für Merkel Steine statt Brot bedeuten, heißt es. Zumindest dann, wenn Seehofer mit einem noch für möglich gehaltenen Entschluss weiterzumachen, die Entscheidung verbinde, von diesem Montag an Migranten an der deutschen Grenze zurückweisen zu lassen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden.

Im CDU-Vorstand gab es für diesen Fall die Einschätzung, dass Merkel den Innenminister dann entlassen werde.

Sollte Seehofer bei seinem Rücktritt bleiben, könnte vom Asylstreit zwischen Kanzlerin und Bundesinnenminister ein Bild von Samstagabend in Erinnerung bleiben: Da war Seehofer überraschend nach Berlin gefahren, traf sich mit Merkel im Kanzleramt. Und dann dieses Bild: Merkel läuft mit einem Weinglas in der Hand einige Meter vor Seehofer über einen Balkon ihrer Regierungszentrale, auch er ein Glas in der Hand.

Die Mienen versteinert. Harmonie und Eintracht sehen anders aus. Schon bei diesen Fotos befürchteten nicht wenige für Sonntagabend das Schlimmste - und zwar in der CDU wie in der CSU.

... und wenn er doch weitermacht?

Was aber, wenn Seehofer doch weitermacht?

Sein Vorgehen am Sonntagabend zeigt jedenfalls: Er stellt seine eigenes politisches Schicksal hintan, wenn es um die Interessen der CSU im Machtkampf mit Merkel geht.

Für die CSU steht viel auf dem Spiel: Am 14. Oktober ist Landtagswahl. Und das "Endspiel um die Glaubwürdigkeit", wie mehrere CSU-Spitzenpolitiker den Kern des Streits beschrieben, wollen weder Seehofer noch die CSU verlieren.

Doch der Glaube an einen Sieg hat schwer gelitten. (cai/dpa)

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