Der künftige Kanzler Friedrich Merz (CDU) hat den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu nach Deutschland eingeladen. Gegen Netanjahu liegt ein internationaler Haftbefehl vor – Deutschland müsste ihn festnehmen. Doch Merz will "Mittel und Wege" finden. Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Moritz Vormbaum erklärt, ob es diese überhaupt geben würde.

Eine Analyse
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Noch am Wahlabend hatten sie miteinander telefoniert: Der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU) und der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Darin soll Merz seinen künftigen Amtskollegen bereits nach Deutschland eingeladen haben.

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Das Problem: Gegen Netanjahu liegt ein internationaler Haftbefehl vor. Den hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag bereits im November vergangenen Jahres erlassen. Netanjahu steht, ebenso wie Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant, unter dem Verdacht, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen verübt zu haben.

Netanjahu müsste festgenommen werden

Laut Chefankläger Karim Khan gibt es ausreichend Gründe für die Annahme, dass die beiden "absichtlich und wissentlich der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wesentliche Dinge für ihr Überleben einschließlich Nahrung, Wasser sowie Medikamente und medizinische Hilfsmittel sowie Brennstoffe und Strom vorenthalten haben".

Der Haftbefehl verpflichtet die mehr als 120 Mitgliedstaaten des IStGH, Netanjahu festzunehmen, sobald er ihr Staatsgebiet betritt. Israel selbst ist kein Mitgliedstaat, auch die USA zählen nicht dazu. Und auch seine erste Europa-Reise seit Erlass des Haftbefehls konnte Netanjahu Anfang April problemlos antreten: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban lud ihn ein und ignorierte den Haftbefehl.

Ungarn verlässt IStGH

Aber nicht nur das: Der EU-Staat kündigte noch während des viertägigen Besuchs von Netanjahu den Rückzug aus dem Internationalen Strafgerichtshof an. Orban hatte den Haftbefehl gegen Netanjahu in der Vergangenheit bereits immer wieder verurteilt. Außerdem hatte das Land den IStGH nie offiziell anerkannt – obwohl Ungarn ihn im Jahr 2001 im sogenannten Römischen Statut ratifiziert hatte.

Bei seinem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten soll auch Merz versichert haben, dass Netanjahu keine Festnahme fürchten müsse. Man würde "Mittel und Wege" für einen Deutschlandbesuch finden. Wie das rechtlich sauber aussehen soll, ließ er offen.

IStGH kann Deutschland nicht zwingen

Zwingen kann der IStGH Deutschland allerdings nicht dazu, den Haftbefehl umzusetzen. "Der IStGH hat in der Tat keine eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten, also keine Polizeieinheit oder ähnliches, sagt Rechtswissenschaftler Moritz Vormbaum im Gespräch mit unserer Redaktion. "Gerade deshalb ist die Kooperationspflicht der Mitgliedstaaten so essenziell."

Im Falle der Nicht-Kooperation könne der IStGH nicht mehr tun, als auf die Kooperationspflicht zu pochen. Schon häufiger sei deshalb der Vorwurf eines "zahnlosen Tigers" erhoben worden. "Wenn die Vertragsstaaten ihre Pflicht ernst nähmen, wäre er aber unberechtigt", so der Experte.

Keine Chance für Merz

Vormbaum sieht keinerlei Rechtfertigungsgrund, der es dem künftigen Kanzler Merz erlauben würde, die Kooperationspflicht nicht zu beachten. Diese Auffassung würden die meisten Rechtswissenschaftler vertreten und auch der IStGH selbst habe dies in seiner Rechtsprechung stets betont. "Das Statut ist meines Erachtens eindeutig", so Vormbaum.

In Deutschland gebe es auch keinen vergleichbaren Präzedenzfall. "Andere Mitgliedstaaten haben allerdings Al-Bashir, den Ex-Präsidenten des Sudan, empfangen. Putin hat vor nicht allzu langer Zeit die Mongolei – auch ein Mitgliedstaat – besucht", sagt Vormbaum.

Vorfälle in der Vergangenheit

Gegen den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar Al-Bashir hatte der IStGH sogar mehrere Haftbefehle erlassen: Im Jahr 2009 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie 2010 wegen Völkermord. Al-Bashir wird vorgeworfen, für die Tötung, Verstümmelung und Folter von hunderttausenden Menschen in der sudanesischen Region Darfur verantwortlich zu sein.

Als beispielsweise IStGH-Mitgliedstaat Südafrika ihn 2015 nicht festnehmen ließ, kassierte das Land eine Rüge. Konsequenzen verhängten die Richter jedoch nicht, auch vor den UN-Sicherheitsrat wurde Südafrika für den Verstoß nicht gebracht.

Scheinheilige Argumentation

Auch gegen Kreml-Chef Putin gibt es seit 2023 einen Haftbefehl vom IStGH wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Der IStGH hält ihn persönlich verantwortlich für die Verschleppung von ukrainischen Kindern. Auch im Falle der Mongolei kritisierte der IStGH die Missachtung zwar, weitere Folgen gab es aber nicht.

Die Mitgliedstaaten hatten sich in beiden Fällen auf angebliche "völkerrechtliche Unklarheiten" berufen und behauptet, dass die grundsätzlich völkerrechtlich anerkannte Immunität von Staatsoberhäuptern mehr wiege als die Pflicht aus dem Statut zur Kooperation. "Dies wurde vom IStGH deutlich zurückgewiesen", merkt Experte Vormbaum an.

Rechtsprechung ist eindeutig

Nach der Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofs gilt die Immunität nur im Verhältnis zwischen zwei Staaten. Deutschland dürfte also einen Regierungschef wegen dessen Immunität nicht an einen anderen Staat ausliefern. Das gilt aber nicht gegenüber dem IStGH – unabhängig davon, ob die Länder der gesuchten Regierungschefs und Staatsoberhäupter selbst Mitgliedsstaaten des IStGH sind.

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"Der IStGH wurde gerade mit dem Ziel geschaffen, diejenigen mit der größten Verantwortung für Verbrechen wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen", erinnert Vormbaum. Diesen Auftrag hätten ihm die Mitgliedstaaten gegeben. Deshalb ergebe die Argumentation mit der Immunität wenig Sinn. "Die größte Verantwortung haben aber letztlich die höchsten Entscheidungsträger- und trägerinnen", so der Experte weiter.

Könnte Deutschland den IStGH verlassen?

Dass Deutschland aus dem IStGH austreten würde, um einen Netanjahu-Besuch zu ermöglichen, glaubt Vormbaum nicht. "Deutschland hat den IStGH bislang immer mit großem Eifer unterstützt. Insofern gehe ich auch nicht davon aus, dass dies passieren wird", sagt er. Deutschland ist der zweitgrößte Finanzierer des IStGH.

Er ist sich vielmehr sicher: "Die Konsequenz wäre in erster Linie ein massiver politischer Schaden. Der Eindruck, der entsteht, wäre, dass Deutschland den IStGH nur unterstützt hat, weil es ihm gerade politisch passte." Die ganzen Beteuerungen, einen Beitrag dazu zu leisten, Völkerrechtsverbrechen effektiv zu bekämpfen, seien dann nicht mehr glaubwürdig. "Das kann man nicht wollen", so Vormbaum.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Moritz Vormbaum lehrt an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster. Er ist Inahber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht.