- Boris Palmer liebt die Provokation und hat deshalb mehr grüne Parteifeinde als -freunde.
- Nun bringt ein Facebook-Post das Fass bei den Grünen zum Überlaufen - pünktlich zum Start in den Bundestagswahlkampf.
- Palmer findet es gut, wenn das Parteiordnungsverfahren gegen ihn eröffnet wird.
Es war eine Szene mit Symbolcharakter. Eine junge Frau spricht Boris Palmer Ende März auf der Neckarbrücke in Tübingen an. "Darf ich Sie kurz feiern?" Er: "Ja, gerne." Sie verneigt sich vor ihm. Schnitt. Die halbe Republik verneigt sich in diesen Tagen vor dem 48-jährigen Grünen. Das Corona-Modellprojekt in der schwäbischen Unistadt gibt vielen Menschen im Lockdown Hoffnung. Der OB ist Dauergast in Talkshows und erklärt stolz seinen Coup. Palmer, der bei den Grünen wegen seiner Provokationen wohl meistgehasste Rebell, ist ganz oben auf - fast immun gegen Kritik. Doch jetzt, sechs Wochen später, ist er bei den Grünen unten durch. Und so wie es aussieht: endgültig.
Debatte über Rassismus ausgelöst
Was ist passiert? Knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl, bei der die Grünen laut Umfragen erstmals eine reelle Siegchance haben, löst der bundesweit wohl bekannteste Kommunalpolitiker eine Debatte über Rassismus bei der selbsternannten Anti-Rassismuspartei aus - auf Facebook, mit Aussagen über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo. Er benutzt am Freitag einen rassistischen und obszönen Begriff aus einem Zitat, das Aogo zugeschrieben wird.
Das Netz läuft über vor Empörung, Palmer ist mal wieder im Auge eines heftigen Shitstorms. Es gibt aber auch Zustimmung - auch von rechter Seite. Seine eigene Partei sieht rot. Um genau 10.30 Uhr am Samstag zieht
Mehrheit für Ausschlussverfahren
Gut vier Stunden später ist es soweit: Die Südwest-Grünen wollten bei ihrem Parteitag in Stuttgart eigentlich feiern - und zwar den "grünsten Koalitionsvertrag aller Zeiten", wie Ministerpräsident
Paradoxerweise hatte Palmer die Delegierten wenige Minuten vorher noch angefeuert, diesen Beschluss zu fassen. Um 14.40 Uhr lässt sich der Tübinger OB per Telefon für eine Gegenrede zu dem Ausschlussantrag in den Parteitag schalten. Hier gehe es darum, abweichende Stimmen zum Verstummen zu bringen, schimpft er. "Daher kann und will ich nicht widerrufen." Es sei deshalb gut, wenn das Parteiordnungsverfahren gegen ihn eröffnet werde, dann könne er sich gegen "haltlose und absurde Vorwürfe" zur Wehr setzen, sagt Palmer, der seit 25 Jahren bei den Grünen ist und seit 2007 OB in Tübingen. Es ist sein Warnsignal an die Grünen im Bundestagswahlkampf.
Palmer schon oft in der Kritik
Die Landespartei hatte Palmer schon im Mai 2020 den Austritt nahegelegt und ihm ein Ausschlussverfahren angedroht. Schon damals hatte Palmer mehrfach mit provokativen Äußerungen für Empörung gesorgt, unter anderem mit einem Satz zum Umgang mit Corona-Patienten. "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären", sagte er in einem Interview. Im April 2019 kritisierte er eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, weil in dieser ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund abgebildet waren. "Welche Gesellschaft soll das abbilden?", fragte er.
Und diesmal ist es ein Facebook-Kommentar Palmers, der den Stein ins Rollen bringt - ausgerechnet unter seinem eigenen Beitrag, in dem er über die Wirkung eines verbalen Ausrutschers auf die Karrieren der beiden Ex-Nationalfußballer
Unklare Situation
"Lehmann weg. Aogo weg. Ist die Welt jetzt besser? Eine private Nachricht und eine unbedachte Formulierung, schon verschwinden zwei Sportler von der Bildfläche", schreibt Palmer am Freitag bei Twitter unter der Überschrift "@Cancel Culture". "Na mal wieder Rassismus relativieren?", stichelt ein User darunter. Palmer antwortet trocken: "Der Aogo ist ein schlimmer Rassist." Und fügt einen vulgären Satz über Aogo an, der das N-Wort enthält.
Dann wird klar: Palmer bezieht sich auf einen abfotografierten Kommentar eines Facebook-Accounts, offenbar von einer Frau, auf Aogos Facebook-Seite, die dem Fußballer ohne Beleg vorwirft, ihrer Freundin auf Mallorca ein sexuelles Angebot gemacht und dabei das N-Wort - eine früher in Deutschland genutzte rassistische Bezeichnung für Schwarze - verwendet zu haben.
Unklarheit herrscht über die Person, die hinter dem Profil steckt, von dem aus ursprünglich auf Aogos Facebook-Seite unter dem Bild kommentiert wurde. Der Account mit einem Frauennamen, der beim sozialen Netzwerk Dutzende Male vertreten ist, ist in der Form nicht mehr auffindbar. Bei einer Rückwärtssuche nach dem Profilbild führt die Spur zu einer Beauty-Bloggerin aus Norwegen. Der "Bild" sagte Palmer am Samstag, er habe selbst Zweifel an der Echtheit des angeblichen Aogo-Zitats gehabt, in dem das N-Wort ursprünglich verwendet wurde. "Mir war natürlich klar, dass es sich bei den Facebook-Vorwürfen gegen Aogo, auf die ich angespielt habe, sehr wahrscheinlich um ein Fake handelt." (dpa/cdo)
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