Wochenlange Verhandlungen über eine EU-Handelspakt mit Großbritannien haben nichts gebracht - jetzt müssen die Chefs ran. Bei einem Spitzentreffen am Montagnachmittag sollen sie den "Gordischen Knoten lockern". Doch wie geht es nach dem Brexit weiter?
Ein Spitzentreffen der Europäischen Union mit Großbritannien soll am Montag neuen Schwung in die festgefahrenen Gespräche über ein Handelsabkommen nach dem Brexit bringen. An der Videokonferenz mit dem britischen Premierminister Boris Johnson nehmen für die EU Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli teil. Experten hatten seit März in vier intensiven Verhandlungsrunden praktisch keine Fortschritte erreicht.
Großbritannien war Ende Januar aus der EU ausgetreten. In einer Übergangsfrist bis zum Jahresende gehört das Land aber noch zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion, so dass sich im Alltag fast noch nichts geändert hat. Gelingt kein Vertrag über die künftigen Beziehungen, könnte es Anfang 2021 zum harten wirtschaftlichen Bruch mit Zöllen und anderen Handelshemmnissen kommen.
Intensive Verhandlungen bis Ende Juli
Die sogenannte Hochrangige Konferenz war bereits im EU-Austrittsvertrag mit Großbritannien vereinbart worden. Offiziell sollte sie dazu dienen, Zwischenbilanz der Verhandlungen zu ziehen und vor Ende Juni eine mögliche Verlängerung der Verhandlungsfrist um ein oder zwei Jahre zu besprechen. Großbritannien hat eine solche Fristverlängerung jedoch offiziell ausgeschlossen. Am Freitag erklärte die EU-Kommission deshalb, aus ihrer Sicht sei das Thema endgültig vom Tisch.
Beide Seiten haben nun noch einmal intensive Verhandlungen bis Ende Juli vereinbart. Allerdings sind die Hürden hoch. Die EU bietet dem Vereinigten Königreich ein umfassendes Handelsabkommen mit Zugang zum EU-Markt ohne Zölle und Mengenbegrenzung und fordert im Gegenzug gleiche Wettbewerbsbedingungen mit hohen Sozial- und Umweltstandards. Großbritannien will jedoch keine Vorgaben der EU akzeptieren. Weitere wichtige Streitpunkte sind der Zugang von EU-Fischern zu den reichen britischen Fischgründen und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei Streitigkeiten der Vertragspartner.
Wirtschaftliche Vernunft gebietet eigentlich eine Einigung. Doch ökonomische Gesichtspunkte spielen in London allenfalls eine Nebenrolle. Die langfristige Bindung an EU-Standards würde ein weitreichendes Handelsabkommen Großbritanniens mit den USA verhindern. Experten sind sich einig, dass durch ein Abkommen mit Washington der Verlust des EU-Marktzugangs bei Weitem nicht wettgemacht werden könnte. Doch das Versprechen von der Rückkehr zur globalen Handelsnation war zentral für die Brexit-Kampagne.
Streitpunkt Fischerei
Ähnlich sieht es bei der Fischerei aus. Sie ist für gerade einmal 0,1 Prozent der Bruttowertschöpfung in Großbritannien verantwortlich. Doch ihre symbolische Bedeutung kann für die einstige Weltmacht zur See kaum überschätzt werden. Zudem steht Johnson im Mai 2021 die erste große Prüfung seit seinem Wahlsieg bevor: Die Parlamentswahl in Schottland.
Es sind vor allem die Fischer im Nordosten Schottlands, die sich von der Loslösung der gemeinsamen Fischereipolitik zusätzliche Einnahmen versprechen. Sollten sie sich von Johnson verraten fühlen, wäre das ein Geschenk für die Separatisten von der Schottischen Nationalpartei SNP. Die wartet nur auf eine Gelegenheit, um ihre Forderungen nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum in dem Landesteil wieder auf die Agenda zu bringen. Und eines will Johnson auf keinen Fall: Als letzter Premierminister des Vereinigten Königreichs in die Geschichte eingehen.
Ein Kompromiss scheint trotzdem nicht unmöglich, solange der britische Premier ihn zuhause als Sieg verkaufen kann. Darauf dürften die Hoffnungen ruhen, wenn sich Johnson mit den EU-Spitzenvertretern unterhält.
Die deutsche Wirtschaft warnt eindringlich vor einem Bruch ohne Vertrag. "Ein erschwerter Datenaustausch, die Einführung von Zöllen und die Unterbrechung von Lieferketten nach der Übergangsphase wären wahrscheinlich", erklärte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben am Freitag. "Definitiv müssten sich die Unternehmen auf unterschiedliche Standards und deutlich längere Abfertigungszeiten für den Transport von Waren an den Grenzen sowie auf Zollanmeldungen gefasst machen."
Schon in den ersten vier Monaten dieses Jahres seien die deutschen Exporte um rund 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurückgegangen, führte Wansleben weiter aus. Die negativen Folgen des Brexits müssten zumindest abgefedert werden. "Es bleibt die Hoffnung, den festgezurrten Gordischen Knoten am Montag gerade in Zeiten der Corona-Krise doch noch etwas zu lockern", meinte Wansleben. © dpa
Was kommt nach dem Brexit? Fragen und Antworten
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.