Die Brexit-Verhandlungen stocken - mal wieder. Kurz nach Beginn der achten Verhandlungsrunde brüskierte der britische Premierminister Boris Johnson seine Verhandlungspartner mit einem angekündigten Vertragsbruch. Seine Taktik ist gewagt - denn London verfügt über kaum Verhandlungsspielraum.

Eine Analyse

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Der britische Premierminister Boris Johnson hat momentan keinen Lauf. Die Lage an der pandemischen Front ist, verglichen zu den meisten anderen EU-Staaten, katastrophal und ein Abebben der Infektionszahlen nicht in Sicht. Mit 41.500 Toten zählt die Insel mehr als jeder andere europäische Staat.

Und zusätzlich zum coronabedingten Wirtschaftseinbruch zanken sich London und die EU seit nunmehr drei Jahren über die Bedingungen eines Handelsvertrags. Auch das trübt die ökonomische Perspektive. Mittlerweile hängen die Wolken über den Verhandlungsräumen in London, Straßburg und Brüssel jedoch so tief, dass eine breite Phalanx aus Politik und Wirtschaft nicht mehr das Scheitern der Brexit-Gespräche fürchtet, sondern mit einem Zerwürfnis ohne vertraglichem Ergebnis rechnet.

Zumal sich allen Warnungen zum Trotz eine Mehrheit im britischen Unterhaus für das umstrittene Binnenmarktgesetz von Premier Boris Johnson ausgesprochen hat: 340 der Abgeordneten votierten am Montagabend für das Gesetz, mit dem Johnson Teile des gültigen Brexit-Deals ändern will. 263 stimmten dagegen. Ein Antrag der Opposition, um das Gesetz zu stoppen, war zuvor mehrheitlich abgelehnt worden.

Die Abstimmung gilt als Stimmungsbarometer - in den kommenden Tagen geht die Debatte über den Gesetzesentwurf weiter, erst in einer Woche steht die entscheidende Abstimmung an. Danach muss das Gesetz noch das Oberhaus passieren.

Manfred Weber, der als Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion alles andere als ein Avantgardist ist, drückte es gegenüber dem Deutschlandfunk zuletzt so aus: Ein "No Deal wird jeden Tag realistischer - und das spürt auch jeder." Und auch Kristine Braden, als Europachefin der Investmentbank Citigroup eine wichtige Wortführerin der für Großbritannien so wichtigen Finanzindustrie warnt: "Wir sollten uns nicht an die Hoffnung klammern, dass es eine Last-Minute-Einigung gibt".

Johnson zündelt zu Beginn der Verhandlungen

Diese Warnungen sind nicht an Brüssel gerichtet, sondern gehen per Einschreiben an Downing Street 10, von wo aus der britische Premierminister Boris Johnson seinen Verhandlungspartnern auf europäischer Seite die Zornesfalten auf die Stirn treibt. Diesmal platzierte Johnson seine Bombe pünktlich zum Auftakt der achten Verhandlungsrunde im britischen Parlament, wo er eine umstrittene Gesetzesvorlage einbrachte, die auf europäischer Ebene als Provokation gewertet wird. Das Echo dieser Detonation war so verheerend, dass Beteiligte auf allen Seiten rätseln, wie jetzt noch eine Lösung aussehen könnte, die weder mit einer Kapitulation der Briten endet, noch mit einem "No Deal"-Brexit.

Knackpunkt des neuerlichen Streits ist ein sogenanntes Binnenmarktgesetz, das die britischen Minister von den Regelungen des sogenannten "Nordirland-Protokolls" entbinden würde. Dieses sollte verhindern, dass zwischen dem britischen Landteil Nordirland und dem EU-Staat Irland eine feste Grenze entsteht - es war das bislang größte Streitthema. Völkerrechtlich verbrieft, sollte das Protokoll den fragilen inneririschen Frieden auch nach dem Ausscheiden der Briten bewahren.

Dafür wären Kontrollen im Warenverkehr zwischen dem britischen Festland, Nordirland und der Republik Irland nötig, weil ansonsten Nordirland ein mögliches Einfallstor für ungeregelte Importe in den EU-Binnenmarkt wäre. Großbritannien, so die Sorge unter den EU-Verhandlern, würde ohne Kontrolle Zölle und Warenstandards ignorieren, weshalb eine rote Linie gezogen werden müsse. Die Antwort aus Brüssel kam postwendend. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen twitterte, sie sei "sehr besorgt". "Dies würde Völkerrecht brechen und Vertrauen untergraben." Auch EU-Ratspräsident Charles Michel sagte, Johnsons Vorstoß sei "inakzeptabel".

Brexit: Zockt Johnson nur?

Wie könnte es nun weitergehen? Schließlich sind noch eine ganze Reihe weiterer Streitpunkte offen, die in dieser achten Verhandlungsrunde abschließend behandelt werden sollten. Unter anderem geht es um die Fischereirechte im Atlantik und die Förderung heimischer Unternehmen durch die britische Regierung. Die Europäische Union besteht weiter darauf, dass London eine wirksame Kontrolle für Staatshilfen einführt, um einen fairen Wettbewerb mit dem übrigen Kontinent zu garantieren. Eine Einigung gibt es bisher auch an dieser Front nicht.

In der EU rätselt man deshalb, wieso Johnson vier Monate vor Ende der Übergangsphase, innerhalb derer ein Abkommen erzielt werden muss, mit seiner neuerlichen Provokation das Verhandlungsklima absichtlich verschlechtert. Der Gesetzentwurf ist ja bereits der zweite Affront innerhalb einer Woche, nachdem Johnson die EU bereits zu einer Einigung bis zum 15. Oktober verpflichtet hat, was bei den Verhandlern auf europäischer Seite als willkürlicher Akt bewertet wird.

Sollte dieses Datum überschritten werden, droht London unverhohlen damit, den Scheidungsvertrag mit der EU außer Kraft zu setzen, um zu einem Australien im Miniaturformat zu werden. Erst am vergangenen Wochenende erklärte Johnson seinen Landsleuten, dass Großbritannien selbst dann "mächtig florieren" werde, wenn es mit der EU "ein Abkommen im australischen Stil" geben sollte. Und in Richtung Brüssel sagte er: "Wir werden das durchstehen. Es ist absolut wichtig, dass unsere Partner verstehen, dass wir das tun werden, was wir tun müssen."

Australisches Modell: Alter Wein in neuen Schläuchen

Dieses "australische Modell", das sich von einem "No Deal"-Brexit nur semantisch unterscheidet, versucht die Regierung ihren Bürgern als eine Art Szenario zu verkaufen, in dem man tun und lassen kann, was man will. In Wahrheit wäre es aber das Eingeständnis, dass die Verhandlungen, die das Land politisch die letzten drei Jahre gelähmt haben, umsonst gewesen sind.

In der Theorie könnte Großbritannien dennoch bilaterale Abkommen mit anderen Ländern nach den Mindeststandards der Welthandelsorganisation WTO schließen, bräuchte dafür aber willige Partner. Vermutlich glaubt Downing Street nicht einmal selbst, dass ihnen ein Scheitern der Gespräche nutzt, um kurz darauf an den Verhandlungstisch zurückzukehren und über ein neues Handelsabkommen mit der EU zu beraten. Und auch die Amerikaner, die von den Briten stets als der wichtigste Partner nach einem harten Bruch mit der EU benannt werden, betrachten Johnsons Verhandlungstaktik als wenig zielführend.

Das hat die ranghöchste Demokratin Nancy Pelosi zuletzt in einem beispiellosen Schulterschluss mit der EU deutlich gemacht. Sollte die britische Regierung Völkerrecht brechen und durch ihren Alleingang die hart errungene Stabilität in Nordirland gefährden, hätte dies schwere Folgen, warnte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses. Ein Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien werde dann "absolut keine Chance" im Kongress haben. Der US-Kongress müsste einem solchen Handelsabkommen zustimmen - und mit ihrer Mehrheit im Repräsentantenhaus könnten es Pelosis Demokraten blockieren. Johnsons Verhandlungsposition gegenüber der EU hat diese Meldung ebenfalls nicht gestärkt.

Größer als die Wut über die immer regelmäßigeren Provokationen ist in Brüssel deshalb auch die Verwunderung über die Chuzpe, die Johnson wenige Monate vor einem drohenden harten Brexit immer noch besitzt. Schließlich regiert er gerade ein Land, das einen höheren Einbruch des Bruttoinlandsprodukts als jeder andere Industriestaat in Europa vermeldete. Ein Brexit, so sind sich fast alle Experten einig, würde diese Zahl inmitten der Pandemie in ganz andere Höhen treiben.

Gut möglich also, dass Boris Johnson mal wieder das tut, was er am besten kann: Zocken, um am Ende doch einzuknicken. Es wäre das letzte Aufbäumen vor der Kapitulation.

Verwendete Quellen:

  • Irish Times: Pelosi warns ‘no chance’ of US-UK trade deal passing Congress if Brexit law breached
  • Handelsblatt: Neue Citigroup-Europachefin rechnet mit hartem Brexit – „Wir sollten uns auf jedes Ergebnis vorbereiten“
  • Deutschlandfunk: „Wir müssen uns als Europäer auf den Worst Case vorbereiten“
  • dpa-Material
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