Die britischen Abgeordneten haben für Boris Johnsons Brexit-Deal gestimmt – ein Erfolg für den Premierminister. Dennoch liegt die Gesetzgebung auf Eis: Die Parlamentarier empfinden die Frist bis zur endgültigen Zustimmung als zu knapp und zwingen Johnson, bei der EU Aufschub zu fordern – der Brexit ist nun nicht mehr bis zum 31. Oktober zu schaffen. Ist das ein halber Sieg für Johnson oder doch eher eine Niederlage? Und wie geht es weiter? Wir haben mit dem Brexit-Experten Prof. Gerhard Dannemann gesprochen.
Herr Dannemann,
Prof. Gerhard Dannemann: Ein normaler Premierminister wäre in dieser Situation schwer angeschlagen, aber Boris Johnson ist kein normaler Premierminister. Er hat die ersten sieben Abstimmungen nach seiner Wahl inhaltlich verloren und jetzt hat er endlich mal eine gewonnen – insofern ist das schon ein Sieg. Er sieht sich auch als Sieger, weil sein Deal es bis zur zweiten Lesung geschafft hat – das hat seine Vorgängerin
Die andere Seite sieht sich aber auch als Gewinner: Sie hat den Aufschub gefordert und ihn bekommen. Die Frage ist, wie es jetzt weitergeht.
Und wie geht es weiter mit dem Brexit und mit Boris Johnson?
Die EU wird wohl so handeln, wie Donald Tusk es vorgeschlagen hat: Sie verlängert die Austrittsfrist um drei Monate bis zum 31.1.2020 mit der Möglichkeit eines früheren Austritts, sobald die Abkommen ratifiziert sind. Für diesen früheren Termin müsste Johnson aber doch den Zeitpunkt des Austritts neu verhandeln, was er gerade nicht wollte. Aber er wird es dann wohl doch tun.
Also muss ich noch einmal fragen: Wie wird es Ihrer Ansicht nach weitergehen?
Es läuft auf Neuwahlen hinaus. Boris Johnson will sie, aber auch das ist nicht einfach. Um Neuwahlen zu beschließen, braucht er eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament – er kann's nicht allein. Oder ein Misstrauensantrag gegen ihn muss durchkommen.
Wenn es Neuwahlen gibt, wird Johnson im Wahlkampf Auskunft geben müssen, wie er den Brexit durchführen will. Er könnte dafür seinen jetzigen Deal als Beispiel nehmen. Allerdings möchte er unbedingt die Anhänger der Brexit Party zurückgewinnen – und die fordern einen Austritt ohne Abkommen.
Eine andere Möglichkeit wäre, den Wahlkampf mit dem Ziel eines harten Brexit zu führen. Auch das wäre nicht wirklich glaubwürdig, weil er ja schon verhandelt hat. In diesem Szenario würde er viele Wähler an die Liberalen und an Labour verlieren.
Kann er nicht bis dahin den jetzt ausgehandelten Deal im Parlament durchbringen?
Es wird auf jeden Fall Änderungsanträge geben. Labour wird zum Beispiel bessere Arbeitsschutzvorschriften wollen und ähnliches. Aber es ist denkbar, dass das Gesetz mit einigen technischen Änderungen eine knappe Mehrheit findet. Das wäre Johnson am liebsten – mit diesem Ergebnis könnte er in den Wahlkampf ziehen, die Brexit Party könnte dann kollabieren, deren Stimmen würde er bekommen.
Wie sehen denn Johnsons Umfragewerte derzeit aus?
Die Ergebnisse der Umfragen schwanken stark. Man kann davon ausgehen, dass die Tories stabil über 30 Prozent bekommen. Aber im britischen Mehrheitswahlrecht kann man mit 35 Prozent locker gewinnen oder locker verlieren. Gegenüber der Wahl von 2017 werden die Konservativen einige Wahlkreise einbüßen, zum Beispiel in Schottland und in Kernländern der Liberalen. Sie müssen also Defizite wiedergutmachen und Labour-Stimmen gewinnen. Das kann in Wahlkreisen gelingen, die mehrheitlich für den Brexit oder gegen den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn sind.
Und wenn die Tories die Mehrheit verpassen?
Es wäre auch ein Parlament ohne Mehrheit denkbar – dann sind die Briten genau da, wo sie jetzt sind. Es könnte aber auch sein, dass die derzeitigen Oppositionsparteien eine Mehrheit zusammenbekommen. Sie müssten dann eine extrem schwierige Koalition bilden, die sich wieder vor allem wegen des Brexit uneinig wäre …
Das heißt, den Graben, der sich durch die britische Politik und auch durch die Gesellschaft zieht, könnten Neuwahlen nicht zuschütten?
Die Bevölkerung ist sehr hart gespalten, die Diskussion wird immer unfreundlicher, es kommt sehr vieles zum Vorschein, was man außerhalb von Großbritannien für sehr unbritisch hält. Den für alle tragbaren Kompromiss gibt es nicht.
Von außen betrachtet scheint Großbritannien seit Monaten auf der Stelle zu treten. Wir haben zuletzt im September über die dortige Situation gesprochen. Sehen Sie seit damals eine Veränderung?
Im September sah es noch nicht so aus, als ob Boris Johnson ernsthaft verhandeln würde. Dann hat er irgendwie mitbekommen, dass Nordirland ein echtes Problem ist, dass es um Zoll und Kontrollen geht, und es kam der Moment, wo er wirklich verhandelt hat. Dazu musste er seine Alliierten von der irischen DUP fallen lassen. Das war eine bedeutende, ernsthafte Konzession, die er gemacht hat. Leider hat das aber die grundlegende Situation nicht verändert.
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