Wer die dramatischen Folgen der Brexit-Posse nicht versteht, sollte Pettigo besuchen. Ein Dorf, zwei Staaten. Der 600-Einwohner-Ort liegt genau zwischen Nordirland und der Republik Irland. Grenzkontrollen gibt es hier schon lange keine mehr. Der Brexit könnte das ändern - mit dramatischen Folgen.

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Während die britische Premierministerin Theresa May die Abgeordneten im fernen London dazu aufruft, in der anhaltenden Brexit-Posse die Nerven zu behalten, geht andernorts die Angst um, dass die Nerven bald wieder blank liegen könnten.

Es ist eine alte Angst, die sich aus der Vergangenheit in die Gegenwart der Menschen schleicht. Und sie können nichts dagegen tun. Denn Menschen, wie etwa die Bewohner des Grenzdörfchens Pettigo, können die Vergangenheit nicht vergessen.

Dabei würde Mervyn Johnston die Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg in Nordirland am liebsten auslöschen. "Ich bin ein paar Mal in die Luft gejagt worden", sagt der 79-jährige Nordire mit leiser Stimme.

Johnston sitzt im Büro seiner Autowerkstatt mit Blick auf die Brücke über den kleinen Fluss Termon, der den irischen Teil des 600-Einwohner-Dorfs vom nordirischen trennt.

Nordirland gehört zu Großbritannien. Früher waren auf beiden Seiten Grenzposten. Sollte es bis zum 29. März kein Abkommen über den EU-Austritt der Briten geben, könnten sie bald wieder zurückkehren.

Im Fadenkreuz der IRA

Johnston deutet mit der Hand auf eine Halle. "Die Hauptwerkstatt ist zwei Mal komplett in die Luft geflogen", sagt er. Verletzt wurde dabei niemand. "Ich habe Glück, dass ich noch da bin."

Zur Zielscheibe der katholischen Untergrundorganisation IRA wurde Johnston, weil er als Protestant Anfang der 1970er Jahre Reservist in einer Einheit der britischen Armee war. Doch auch in der Postfiliale in Pettigo wurde einst eine Bombe gefunden. Beim Entschärfen kam ein britischer Soldat ums Leben.

Die Grenze war als Symbol der Teilung immer wieder das Ziel von Anschlägen im drei Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg, der etwa 3.700 Menschen das Leben kostete.

Dabei kämpften katholische Befürworter einer Vereinigung Irlands gegen die britische Armee und protestantische Loyalisten. Er sei sehr froh gewesen, als der Spuk mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ein Ende nahm, sagt Johnston.

Nun, fast 20 Jahre später, tauchen durch den Brexit die Schatten der Vergangenheit wieder auf. "Es gibt ein paar Individuen, die nur auf eine Ausrede warten, damit dieser Ärger wieder von vorne losgeht", sagt er und erinnert an eine Autobombe in Londonderry vor einigen Wochen.

Es gibt immer noch bewaffnete Gruppen

Noch immer gibt es bewaffnete Gruppen in Nordirland, die sich von einem Wiederaufflammen des Konflikts neue Legitimation und Geld erhoffen. Die Grenzen zwischen den Militanten beider Seiten und der Unterwelt waren schon immer fließend.

Drogenhandel und Schmuggel sind wichtige Einnahmequellen für die Paramilitärs und besonders der Schmuggel könnte nach dem EU-Austritt Großbritanniens und dem Anfallen von Zöllen erheblich lukrativer werden.

Dass es so schlimm wird wie einst, glaubt Johnston zwar nicht, aber wenn es kein Abkommen gebe, werde es Kontrollen geben müssen, da ist er sich sicher.

Einen Vorgeschmack darauf hat bereits James Gallagher bekommen. Der 60-Jährige betreibt einen kleinen Supermarkt im irischen Teil von Pettigo.

Vor Kurzem erhielt er Post von der Regierung in Dublin. Sollte er Waren aus Nordirland im Angebot haben, müsse dafür womöglich bald Einfuhrerklärungen ausfüllen, hieß es darin.

Gallagher schüttelt den Kopf: Für ein so kleines Unternehmen wie seines mache das wenig Sinn. Er wird wohl einfach den Vertrag mit seinen nordirischen Zulieferern kündigen und sein Obst und Gemüse aus Irland beziehen.

Zwar betonen London und Dublin immer wieder, dass sie eine harte Grenze um jeden Preis verhindern wollen. Doch was passiert, wenn es kein Abkommen gibt, ist noch immer unklar.

"Ich glaube, das ist eines dieser Dinge, die man nicht aussprechen will, weil man befürchtet, sie könnten dadurch wahr werden", sagt der Wirtschaftsprofessor Brian Lucey vom Trinity College in Dublin.

Die Realität sei aber, dass Kontrollen bei einem Austritt Großbritanniens aus der Zollunion unumgänglich seien.

No-Deal-Brexit? Hart, aber kein Weltuntergang

Wirtschaftlich, glaubt Lucey, wäre ein No-Deal-Brexit für Irland zwar hart, aber keine Katastrophe. Seit Jahrzehnten arbeitet Dublin daran, die wirtschaftliche Abhängigkeit von Großbritannien zu verringern.

Diese Entwicklung werde sich beschleunigen, so Lucey. Irland würde wohl über einen Zeitraum von 15 Jahren sieben Prozent an Wachstum verlieren. Das wäre ein Drittel des Schadens, den die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 angerichtet hat.

Schwerer zu verdauen wären die Jobverluste. Gerechnet wird mit bis zu 50.000 Arbeitsplätzen, die in Irland durch einen No-Deal-Brexit verloren gehen könnten, weil er besonders arbeitsintensive Branchen wie die Landwirtschaft träfe. "Das ist hochproblematisch in einer Volkswirtschaft mit zwei bis drei Millionen Beschäftigten", sagt Lucey.

Trotzdem sei es nicht die Katastrophe, die Brexit-Befürworter in Großbritannien zu dem Glauben verleiteten, Dublin würde am Ende schon nachgeben.

Brisanter dürfte ein No-Deal politisch sein. Wie wird es die Bevölkerung aufnehmen, wenn Großbritannien am 29. März ohne Abkommen aus der EU kracht und die Regierungen auf beiden Seiten wieder Grenzkontrollen einführen?

Ohnehin würde das einer Herkulesaufgabe gleichen: Die rund 500 Kilometer lange Grenze hat der BBC zufolge etwa 270 Grenzübergänge. Das sind mehr als doppelt so viele wie an der längsten Grenze der Welt zwischen den USA und Kanada.

Alles dreht sich um den Backstop

Die Vorschläge verschiedener britischer Politiker, den Warenverkehr mit anderen Mitteln als Grenzkontrollen zu überwachen - beispielsweise mit technologischen - kranken allesamt daran, dass sie ohne Kooperation der Exporteure oder Importeure nicht funktionieren. Wer seine Waren nicht ordnungsgemäß anmeldet, kann nicht erfasst werden.

Doch auch wenn Großbritannien am 29. März mit einem Abkommen aus der EU ausscheidet, ist die Frage, wie eine harte Grenze in Zukunft verhindert werden kann, nur aufgeschoben.

Sollte London wie angekündigt die Europäische Zollunion und den Binnenmarkt verlassen, gäbe es bislang keine Alternative zu Kontrollen.

Das ist der Grund, warum Brüssel und Dublin auf den in London verhassten Backstop pochen.

Dabei handelt es sich um eine Regelung, die Großbritannien als Ganzes in der Zollunion und Nordirland in Teilen des Binnenmarkts belässt, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Doch nun sind es nicht einmal sieben Wochen bis zum Brexit und die Fronten sind verhärtet, sowohl im Parlament in London als auch zwischen der britischen Regierung und Brüssel.

Was wird geschehen? Die Mutter von Ladenbesitzer James Gallagher in Pettigo, die mit 87 Jahren noch immer hinter der Kasse sitzt, zeigt auf eine verfallene Baracke auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Sie werden die Grenzposten wieder aufmachen." (dpa/mwo)

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