In der Flüchtlingsdebatte sind deutsche Politiker und deren "Think Tanks" besonders kreativ. Regelmäßig kommt es zu Wortneuschöpfungen oder Vergleichen, etwa mit einer Lawine. Warum die Politiker diese Begriffe wählen und weshalb das zu Irritationen führt

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Joachim Herrmann war der aktuell letzte, der für Irritationen sorgte, mit seiner Wortwahl, in der Flüchtlingsdebatte.

Im Gespräch mit der "Bild"-Zeitung forderte der CSU-Politiker einen "Bremsklotz für den Flüchtlingsstrom".

Bayerns Innenminister, 59 Jahre alt, ist schon lange im politischen Geschäft. Er weiß, wie solche Aussagen beim potentiellen Wähler ankommen. Und er sagt sie doch oder gerade deswegen.

So wie viele seiner Kollegen in den Tagen, in denen neben der Terrorgefahr kein Thema Deutschland mehr beherrscht als die sogenannte Flüchtlingskrise.

Wieso die Politiker die immer selben Begriffe wiederholen und was sie sich davon versprechen, erklärt der Geschäftsführer der Deutschen Rednerschule Sammy Stauch im Gespräch mit unserer Redaktion.

Herr Stauch, Kanzlerin Merkel sagte im Herbst, "wir schaffen das" - und wurde heftig kritisiert. Ist der Vorwurf, sie habe damit eine missverständliche Botschaft ausgesandt, korrekt?
Sammy Stauch: Frau Merkel hat das Wörtchen "das" seinerzeit nicht konkretisiert. Meinte "das" die Wohnungsfrage? Organisatorische Herausforderungen? Die Frage kultureller Integration von Flüchtlingen? Die Überwindung gesellschaftlicher Ängste?

Über Thesen oder Appelle ohne Fakten und Grundsätze lässt sich trefflich streiten und Parteipolitik betreiben. Sie war und ist aber angreifbar, weil die Sachebene zum Zeitpunkt der Aussage nicht geklärt war. Und aufgrund ihrer Komplexität vielleicht nie geklärt sein wird.

Wie also hätte sich Frau Merkel verhalten sollen? Egal, was sie gesagt hätte – sie wäre in jedem Fall kritisiert worden.

Allein das Wort "Flüchtlingskrise" gibt eine Tendenz vor. Sollten wir uns eine Alternative zulegen?
Das kommt auf die Perspektive an. Denn beschreibt das Wort nicht im eigentlichen Sinn nur, dass sich Flüchtlinge in einer Krise befinden? Dass dem so ist, kann keiner bestreiten.

Das Wort finde ich angemessen – nur nicht seine Interpretation in dem Sinne, dass Flüchtlinge Deutschland oder Europa in eine Krise stürzten. Bei allen Schwierigkeiten: Eine Krise beginnt mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Davon sind wir meilenweit entfernt. Das ist mein normativer Maßstab.

Flüchtlingskrise ist nur ein Begriff von vielen, es wirkt, als werfen die Politiker und deren "Think Tanks" mit diesen nur so um sich. Das erste Opfer ist die Objektivität, oder nicht?
Niemand ist objektiv. Das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt, Fakten zu filtern - und nicht zu sammeln. Selbst das Zitieren von Fakten ist höchst subjektiv, weil bereits die Faktenauswahl zum Zwecke der Argumentation höchst subjektiv ist.

Problematisch ist nicht die Meinung eines Menschen, sondern das Beharren auf dieser Meinung. Dann mutieren Begriffe zu vermeintlichen Wahrheiten.

Fällt Ihnen ein jüngeres Beispiel ein, als ein Politiker besonders daneben lag?
Wenn zwei Menschen miteinander diskutieren oder streiten, liegt die Wahrheit entweder in der Mitte oder einer hat Recht. Es erscheint logisch, dass ziemlich viele Politiker Tag für Tag daneben liegen - faktisch, begrifflich, emotional. Ansonsten wäre Politik überflüssig.

Ich bin froh, wenn Politiker danebenliegen – und nicht auf alles eine Antwort wissen. Und ich bin begeistert, wenn es auch mal jemand zugibt.

Meinen Sie nicht, dass es in der aktuellen Debatte häufiger "Fehltritte" gibt?
Wären Führungskräfte und Politiker per se rhetorisch perfekt, gäbe es unser Unternehmen nicht. Rhetorische Fehltritte begegnen uns permanent. Egal, zu welchem Thema.

Doch Fehltritte, die in unseren Seminaren manchmal zur Erheiterung führen, werden in der Öffentlichkeit kaum toleriert. Insbesondere in der Politik nicht, die zu oft Begriffe und nicht deren Inhalte auf die Goldwaage legt.

Und was bewirkt diese Rhetorik beim Zuhörer, beim Bürger, beim Wähler?
Die Rhetorik ist frei. Rhetorik ist – für sich genommen – unschuldig und niemals manipulativ. Was aber Fraktionsdisziplin und Parteiengeplänkel in der Politik gesellschaftlich bewirken und wie Rhetorik dazu missbraucht wird, ist eine andere Sache.

Es ist also davon auszugehen, dass die Begriffe gezielt gewählt werden?
Selbstverständlich. Gerade in der Politik: Schließlich will eine Partei an einer gewissen Wortwahl wiedererkannt werden und mit der Wahl von Stilebene und rhetorischen Figuren bestimmte Werte transportieren.

Damit wird die politische Rede zu einer herausragenden geistigen Leistung, weil sie nicht nur überzeugen und Werte transportieren will, sondern das im Rahmen von nur wenigen Begriffen versucht.

Ist das nicht gefährlich?
Fehlender Diskurs oder fehlende Bereitschaft zur Diskussion – das ist gefährlich.

Was sollten Politiker in ihrer Wortwahl beherzigen?
Der Ratschlag, weniger Phrasen zu dreschen, wäre wohlfeil. Ich bin der Überzeugung: Würden einige soziale Netzwerke das Thema Diskussionskultur für sich entdecken, würden wir uns alle nicht permanent zwischen Ratgeberhektik und Nachrichtenhysterie bewegen, wären auch politische Reden für den Bürger wieder ertragreicher.

Sammy Stauch, Jahrgang 1972, ist der Geschäftsführer der Deutschen Rednerschule in Berlin und gilt als Quereinsteiger, der seine Anfänge als Trainer für Werbung und Marketing hatte. Stauch arbeitete jahrelang als Marketingreferent und Fachmann für Unternehmenskommunikation, ehe er sich seit 2010 dem kreativen, belletristischen Schreiben widmete und unter die Schriftsteller ging. 2011 veröffentlichte er mit seiner Frau Tatjana Ditko einen ersten Roman, seit 2015 steht er der Rednerschule vor, die unter anderem Bundestagsabgeordnete berät.
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