Experten lehnen gefängnisähnliche Einrichtungen für straffällige Kinder, wie von Innenminister Karner vorgeschlagen, größtenteils ab. Stattdessen fordern sie klare gesetzliche Regelungen sowie mehr Betreuung und Prävention.

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Expertinnen und Experten halten wenig von "gefängnisähnlichen" Unterbringungen für besonders straffällige Kinder, wie sie Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) vorgeschlagen hat. Die Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Wien sieht geschlossene Einrichtungen als letztes Mittel der Wahl. Alfred Kohlberger, Geschäftsführer des Vereins Neustart, fordert einen klaren gesetzlichen Rahmen. Kriminalsoziologe Günter Stummvoll rät zu Betreuung und Prävention, ergab ein Rundruf der APA.

Pöschmann: Vorstoß sollte Ultima Ratio sein

In Wien gebe es zwischen 30 und 40 Kinder unter 14 Jahren, die man mit den bisherigen Angeboten nicht erreiche, sagte Ingrid Pöschmann, Sprecherin der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Wien (MA 11). "Wenn die Betreuung in der Familie, stationäre Angebote, Wohngruppen oder erlebnispädagogische Projekte nicht greifen, sehen wir den Vorstoß zu geschlossenen Einrichtungen als weitere Option, als Ultima Ratio, für die Kinder, die das alles nicht annehmen können und wollen", sagte sie zur APA.

Dafür brauche es aber noch eine klare bundesgesetzliche Änderung für geschlossene Einrichtungen und einen "richterlichen Beschluss, in dem festgelegt wird, wie lange das Kind angehalten werden soll. Das darf nicht auf Willkür basieren."

Kohlberger fordert "menschenrechtliche und grundrechtliche Überprüfung"

Alfred Kohlberger vom Verein Neustart könne mit dem Bild der gefängnisähnlichen Unterbringung überhaupt nichts anfangen, sagte er zur APA. "Wir können uns maximal vorstellen, dass Einrichtungen mit temporärer Anwesenheitspflicht geschaffen werden."

Neben dem gesetzlichen Rahmen brauche es dafür aber auch eine "menschenrechtliche und grundrechtliche Überprüfung und in weiterer Folge eine Beurteilung, ob dieser Freiheitsentzug das beste Mittel war", betonte Kohlberger.

Beziehungsaufbau durch Fachpersonal essenziell

Aus kriminalsoziologischer Sicht erreiche man mit harten Maßnahmen wie geschlossenen Einrichtungen wenig, sagte Günter Stummvoll, Soziologe am Institut für Konfliktforschung und Lektor an der Universität Wien, der APA. "Wenn man Jugendliche aus ihrem Leben reißt und einschließt, dann hat das für den weiteren Lebenslauf nur negative Konsequenzen", erläuterte er.

In dem Begriff "gefängnisähnlich" sieht der Kriminalsoziologe ein Reizwort: "Ich vermute, dass das politisch ganz bewusst eingesetzt wurde, um eine Klientel zu erreichen, die auf Law and Order anspricht und um zu provozieren." Denn Gefängnisse seien besonders für Jugendliche "psychisch, physisch und für das Sozialverhalten schädlich". Internationale Studien würden zeigen, dass harte Maßnahmen die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöhen.

Doch wie müssten geschlossene Einrichtungen aussehen, sollten sie kommen? Für die Kinder- und Jugendhilfe müsse die Anhaltesituation jedenfalls kindgerecht sein. Wichtig sei laut Sprecherin Pöschmann, dass die Räume abgegrenzt und sicher sind. Zusätzlich brauche es ein Team aus Therapeuten, Sozialarbeitern und -pädagogen, aber auch Lehrpersonal - die Kinder sind ja schulpflichtig - sowie Sicherheitspersonal. Denn damit die Kinder ihr Verhalten ändern, müsse man eine gute Beziehung zu ihnen aufbauen.

"Unerhörte Kinder" aus "Broken Homes"

Genau diese stabilen Beziehungen fehlen vielen Kindern, die wiederholt straffällig werden. Wenn Jugendliche Gewalttaten begehen, stehe das laut Stummvoll häufig in Zusammenhang mit "Broken Homes" und zahlreichen Negativerlebnissen. Sie kämen aus zerrütteten Familien, würden wenig Kontrolle erleben und seien oft selbst Opfer von Gewalt geworden. Besonders Gewaltkriminalität werde immer wieder damit erklärt, dass die Täter ihre "Chancenlosigkeit in der Gesellschaft oder Misserfolge in der Schule" kompensieren würden. "Das sind nicht einfach bösartige Menschen."

Gleichzeitig ist die Zahl derer, die zu Wiederholungs- oder sogar Intensivtätern werden, also mehrere bis sehr viele Verbrechen begehen, sehr klein. In Wien gebe es laut Neustart-Geschäftsführer Kohlberger etwa 30 bis maximal 50 Intensivtäter - immer wieder auch als "Systemsprenger" bezeichnet. Der Begriff stammt aus der Pädagogik und bezeichnet vor allem Kinder und Jugendliche, die Hilfsangebote nicht annehmen. "Wir sprechen lieber von unerhörten Kindern", sagt Kohlberger. "Ihnen ist Unerhörtes passiert und sie stellen uns vor unerhörte Herausforderungen."

Anstatt Jugendliche einzusperren, sollte man laut Stummvoll verstärkt auf Betreuung in Institutionen setzen, in denen Intensivtäter eine gewisse Kontrolle durch Fachpersonal erleben - "immer gepaart mit einem Gesprächs- und Hilfsangebot", so der Experte. Zudem seien vorbeugende Maßnahmen wichtig, wie Mentoring, Erziehungshilfen, Aggressionsbewältigungs- und Social-Media-Kompetenz-Trainings.

Projekte zeigen Alternativen auf

Die Wiener Kinder- und Jugendhilfe rollt derzeit eine Orientierungshilfe für Intensivtäter aus, in dem Sozialarbeiter und -pädagogen die Kinder und Jugendlichen in ihr persönliches Umfeld begleiten. Zudem befindet sich das Projekt KISI ("Koordinierte Intervention für SchwellentäterInnen") in der Pilotphase. Es soll sicherstellen, dass Schwellentäter nicht zu Intensivtätern werden. Gelingen soll das laut Pöschmann durch Normverdeutlichungsgespräche zwischen Sozialarbeitern und -pädagogen, Polizisten, delinquenten Jugendlichen und deren Eltern. Beide Projekte haben das Ziel, das delinquente Verhalten bei Kindern unter 14 zu durchbrechen.

Die Diskussion um das Thema Jugendkriminalität war erneut hochgekocht, nachdem am Montag Innenminister Karner die aktuellen Zahlen der Kriminalitätsstatistik vorgestellt hatte. Karner bezeichnete den Bereich der Jugendkriminalität als "Sorgenkind", die Anzeigen in diesem Bereich waren stark gestiegen. Die Zahl der Verurteilungen von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren ist in den letzten Jahren allerdings gesunken. (apa/bearbeitet von sbi)