Eine Expertenkommission der Bundesregierung hat empfohlen, Abtreibungen in der Frühphase zu legalisieren. Nun fragt sich: Wie geht es weiter mit Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche generell unter Strafe stellt? Was von den Empfehlungen der Kommission zu halten ist, darüber klaffen die Meinungen auch unter Experten weit auseinander.
Am Montag stellte die Expertenkommission die Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Darin unter anderem der Vorschlag: Abtreibungen sollen in Deutschland in den ersten zwölf Wochen vollständig legalisiert werden. Bisher sind sie verboten, auch wenn ein solcher medizinischer Eingriff straffrei bleibt, sofern vorher eine Beratung stattgefunden hat und die Abtreibung mindestens drei Tage nach dem Gespräch stattfindet.
"Die Reformvorschläge der Kommission sind medizinethisch höchst problematisch, denn sie setzen dem Schutz menschlichen Lebens letztlich willkürliche Grenzen," sagt Florian Dienerowitz. Der Arzt und Medizinethiker forscht an der Universitätsmedizin Mannheim zu Ursachen von Abtreibungen. Die menschliche Entwicklung sei ein kontinuierlicher Prozess von Befruchtung bis zum Tod, ohne klar abgrenzbare Einschnitte, ab welchen der Status des Menschseins zu- oder abgesprochen werden könne.
Verlasse man die biologisch klar definierten Grenzmarkierungen menschlichen Lebens, so Dienerowitz, hänge der Schutz des Lebens an variablen philosophischen, ideologischen oder religiösen Ansichten. Diese jedoch könnten sich rasant ändern und umdefiniert werden – mit fatalen Folgen, befürchtet der Wissenschaftler. Ein abgestufter Lebensschutz, der die Grenzen der Schutzbedürftigkeit an Merkmalen wie Schmerzempfinden, Lebensfähigkeit oder Bewusstsein festmache, könne leicht auf das Leben nach der Geburt übertragen werden. So könne letztlich einem Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt das Lebensrecht aufgrund fehlender "Qualitäten" abgesprochen werden, sagt der Forscher.
Zentrale Frage: Wann beginnt menschliches Leben?
Dienerowitz befürchtet die Umkehr zentraler Gesetzmäßigkeiten, nämlich dass Abtreibungen und somit die Tötung menschlichen Lebens unter der Prämisse mutmaßlicher Selbstbestimmung zu einem Menschenrecht transformiert werde. Dies untergrabe nicht nur ein umfassendes und klar definiertes Verständnis von Menschenwürde und Lebensrecht. Es würde seiner Ansicht nach auch die Entlassung von Mann und Frau aus ihrer Eigenverantwortung für die Folgen ihres eigenen Handelns als Geschlechtspartner bedeuten.
Das sieht Hartmut Kreß anders. Er hatte bis zu seiner Pensionierung eine Professur für Sozialethik an der Universität Bonn inne. Die Reformvorschläge gingen in die richtige Richtung, sagt er. Der Griff nach dem Strafrecht "als dem schärfsten Schwert des Rechtsstaats" bei Schwangerschaftsabbrüchen sei seiner Meinung nach unverhältnismäßig und unangemessen. Dies gelte auch nicht nur für die ersten zwölf Wochen.
Kritisch sieht Kreß, dass die Regierungskommission in ihren Vorschlägen an der Zwölf-Wochen-Frist als Wegmarke für einen Schwangerschaftsabbruch festhält. Kreß hätte sich gewünscht, dass die Kommission sich für eine Ausweitung der bisher geltenden Dreimonatsfrist ausgesprochen hätte. Denn seiner Ansicht nach beruhe diese Frist ohnehin "auf alten naturphilosophischen und religiösen Spekulationen darüber, wann das vorgeburtliche Leben eine Seele erhält." Andere Länder hätten sich auch von dieser Frist verabschiedet, so der Bonner Ethiker.
Aus einer ethischen Perspektive, so Kreß, sei von Belang, dass ein Embryo oder Fetus viele Monate lang noch nicht den Status eines Menschen erreicht habe. Damit komme ihm auch noch keine individuelle Menschenwürde zu. Für ihn gelte auch "noch nicht der Lebensschutz, den Menschen nach ihrer Geburt besitzen," sagt der Forscher. Anders sei das bei Spätabbrüchen, so Kreß, da der Fetus bereits so weit entwickelt sei, dass er dem Status eines geborenen Menschen nahekomme. Ein wichtiger Einschnitt sei erreicht, wenn das Gehirn des Fetus so weit entwickelt sei, dass er bewusst Schmerzen wahrnehmen könne.
Mehr Arztpraxen oder bessere Ursachenforschung?
Nicht nur bei den Bedingungen des medizinischen Eingriffes, sondern auch bei den Rahmenbedingungen eines Schwangerschaftsabbruchs herrscht unter den Experten keine Einigkeit. "Bei über 100.000 Abtreibungen pro Jahr nach den aktuellen Regelungen besteht die Not nicht darin, über zu wenig Abtreibungsfreiheit und -möglichkeiten zu verfügen – zumal die Kapazitäten für einen deutlichen Anstieg der Abtreibungszahlen 2022 und 2023 vorhanden waren," erklärt Dienerowitz. Als Kernproblem sieht er eine "gesellschaftspolitisch unterlassene Hilfeleistung" von Schwangeren in Not und eine Fehlwahrnehmung von Selbstbestimmung in der Debatte.
Schwangere würden häufig keinen Ausweg sehen, beispielsweise aus finanziellen Gründen, einer zu kleinen Wohnung oder drohendem Scheitern in Ausbildung und Beruf, sagt Dienerowitz. Vor allem fehle die Unterstützung ihres Umfeldes. Ausschlaggebender Faktor für einen Abbruch sei nicht selten die ablehnende Haltung des Kindesvaters: Dieser könne sich problemlos seiner Verantwortung entziehen, indem er seiner Partnerin in der vielschichtigen Notlage die Abtreibung als den besseren Weg nahelege. Dies ist nach Ansicht von Dienerowitz "ein unhaltbarer Missstand" und "eine Verkehrung von Selbstbestimmung".
Man müsse sich vielmehr den Konfliktursachen zuwenden, fordert der Wissenschaftler. Jahrzehntelang habe man es verpasst, diese zu untersuchen und zu diskutieren. Folglich seien auch zu wenig effektive und langfristige Hilfen entwickelt worden. Mit einer weiteren Liberalisierung würde der Gesellschaft mehr noch als jetzt der Schwangerschaftsabbruch als vermeintlich einfachster Lösungsweg suggeriert werden. "Infolgedessen würden noch mehr Frauen und ihre ungeborenen Kinder schutzlos in die scheinbare Alternativlosigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs laufen", so Dienerowitz
Soll die Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch verpflichtend bleiben?
Sozialethiker Kreß ist auch hier anderer Meinung. Er spricht sich dafür aus, dass die heute zwingende Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch keine Pflicht mehr darstellen soll. Ein Recht auf eine psychosoziale Beratung solle es hingegen schon geben. Dafür zwingend nötig sei jedoch, so Kreß, dass flächendeckend genügend Arztpraxen und Kliniken vorhanden sein müssten. Hinzu komme der Umstand, dass zahlreiche kirchlich getragene Einrichtungen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verweigerten, obwohl sie einen öffentlichen Versorgungsauftrag hätten, so Kreß.
So dürfte die seit Jahrzehnten laufende Debatte um den Paragrafen 218 durch die Expertenkommission wohl eher neu entfacht als einem Ende zugeführt worden sein. Dementsprechend zurückhaltend haben die Minister der drei Regierungsparteien bislang auf die Empfehlungen der Kommission reagiert.
Über die Gesprächspartner:
- Prof. Dr. Hartmut Kreß, war bis zu seiner Pensionierung 2019 Professor für Sozialethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
- Dr. med. Florian M. Dienerowitz, Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim. Von ihm erschien zuletzt die Publikation "Liberalisierungsansätze auf Grundlage von reproduktiver Selbstbestimmung und ihre möglichen Folgen".
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