• EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verwahrt sich im Interview gegen Kritik an der europäischen Impf-Strategie.
  • Die 56-jährige schwedische Politikerin erklärt zudem, welche weitreichenden Folgen die Pandemie für die EU-Flüchtlingspolitik und die Migration in Richtung Europa hat.
Ein Interview

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Frau Kommissarin, wie ich sehe, sind Sie gerade in Brüssel, wir sind über Videokonferenz verbunden. Wie sehr hat das Coronavirus die Arbeitsweise der EU-Kommission verändert?

Ylva Johansson: Natürlich sehr! Aber ich denke, im Vergleich zu vielen anderen, die in noch schwierigeren Situationen sind als wir, sollten wir uns nicht beklagen.

Wie oft arbeiten Sie von zu Hause aus?

Nicht so oft. Aber während der Pandemie nehme ich an sehr vielen Videokonferenzen teil.

Hat die Pandemie gezeigt, wie verwundbar die EU als internationale Institution ist?

Nein.

Die Antwort überrascht mich. Ich denke an die Alleingänge vieler europäischer Länder während der ersten Welle im vergangenen Frühjahr.

Die Pandemie zeigt, wie sehr wir uns gegenseitig brauchen. Dass wir in der Lage sind, in einer Situation mit großen Herausforderungen Stärke zu zeigen. Im letzten Jahr haben wir es tatsächlich geschafft, uns für Aufschwung und Widerstandsfähigkeit zu entscheiden, die "Next Generation EU" zu finanzieren (damit ist vor allem der mehrere Hundert Milliarden Euro schwere Corona-Wiederherstellungsfonds gemeint, Anm. d. Red.). Parallel haben wir den Brexit bewältigt, eine Menge Vakzine beschafft und Strategien für Impfungen entwickelt. Natürlich ist nicht alles perfekt. Viele Mitgliedstaaten haben aber erkannt, dass es viel schwieriger gewesen wäre, wenn sie alleine mit dieser Pandemie hätten umgehen müssen.

"Gemeinsam sind wir viel stärker"

In Deutschland mehren sich die Stimmen, die sich über die EU beschweren, darüber, wie Brüssel mit Problemen beim Impfen umgeht, etwa im Fall Astrazeneca.

Nun, gemeinsam sind wir viel stärker. Und auch wenn es einige Einzelstimmen gibt: Ich muss sagen, dass alle Mitgliedstaaten dies unterstützt und die Initiative der Kommission zur gemeinsamen Beschaffung wirklich begrüßt haben. Wir haben diesen Vertrag mit Astrazeneca zusammen gemacht. Ich glaube, es sind jetzt sieben weitere Unternehmen, mit denen wir einen Vertrag haben. Die Mitgliedstaaten haben uns gebeten, noch mehr im Gesundheitsbereich zu tun, obwohl der traditionell gar nicht in die Zuständigkeit der Kommission fällt.

Im Vergleich zu Großbritannien oder Israel war der Start der europäischen Impfkampagne allerdings sehr holprig!

Nein, dem würde ich nicht zustimmen. Nie zuvor haben wir die gesamte Bevölkerung geimpft. Die neuen Impfstoffe waren viel, viel schneller verfügbar, als irgendjemand gedacht hat. Und es gab keinerlei Diskussion darüber, ob wir Sicherheitsmaßnahmen verkürzen. Wir wollten uns sicher sein, alles getestet zu haben. Es ist der richtige Ansatz, das normale Verfahren zu durchlaufen, um die Impfstoffe zuzulassen. In Großbritannien gab es eine Notfallzulassung. Nochmal: Wenn man eine ganze Bevölkerung impfen will, dann sollte man das normale Verfahren durchlaufen. Niemand hat jedoch geglaubt, dass das ein Spaziergang wird.

Tausend Prozent mehr irreguläre Ankünfte auf den Kanarischen Inseln

COVID-19 hat auch Einfluss auf Ihr zweites großes Thema: Migration. In welcher Weise?

Wenn man auf die gesamte Europäische Union schaut, dann wurden im vergangenen Jahr weniger Asylanträge gestellt. Zugleich sehen wir unterschiedliche Muster: Zum Beispiel haben die irregulären Ankünfte auf den Kanarischen Inseln um Tausend Prozent zugenommen, auch in Italien und Malta sahen wir einen signifikanten Anstieg. Das hängt damit zusammen, dass die Pandemie viele wirtschaftliche Probleme verursacht, viel Arbeitslosigkeit und Unsicherheit bei armen Menschen.

Es wird also in Zukunft einen größeren Zustrom von Migranten geben?

Das wissen wir nicht. Es ist sehr schwierig, die Reaktionen auf diese Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen vorherzusagen. Aber wir müssen so gut es geht vorbereitet sein, um eine große Wirtschaftskrise zu verhindern. Deshalb helfen wir unseren Partnerländern bei der wirtschaftlichen Erholung während und nach der Pandemie, wie wir es natürlich auch in den Staaten der Europäischen Union selbst tun.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen ist eine Christdemokratin. Sie haben einen sozialdemokratischen Hintergrund. Teilt sie die gleiche Ansicht zur Migration wie Sie?

Es ist sehr einfach, mit der Kommissionspräsidentin in dieser Frage zusammenzuarbeiten. Ich denke, wir teilen die gleichen Werte. Migration ist etwas Normales. Wir sollten keine Angst vor Migration haben, Migration hat es immer gegeben, es wird sie immer geben. Wir brauchen auch Migration – aber wir müssen sie ordnen und steuern. Deshalb müssen wir ein paar mehr Menschen abschieben, die auf irregulären Wegen angekommen sind, und mehr legale Wege einrichten. Diejenigen, die bleiben dürfen, sollten willkommen geheißen werden. Sie sollten integriert werden und Teil unserer Gesellschaft werden. Aber diejenigen, die nicht bleiben dürfen, müssen zurückkehren. Aber selbst wenn sie zurückkehren müssen, sind sie immer noch Menschen. Sie haben Rechte und sie haben eine Würde. In all diesen Aspekten habe ich das Gefühl, dass ich und die Präsidentin sehr auf einer Linie sind.

"Wir haben uns mit Sicherheit nicht festgefahren"

Im vergangenen September hat die EU-Kommission einen Neuanfang in der Migrationspolitik angekündigt. Was hat sich getan seit Sie das neue Migrations- und Asylpaket vorgestellt haben?

Wir sind immer noch dabei, die Vorschläge durchzugehen. Es sind fünfhundert Seiten an Gesetzesvorschlägen. Wir gehen diese mit den Mitgliedstaaten auf technischer Ebene durch, wir haben dort einige Fortschritte gemacht. Das Europäische Parlament hat gerade begonnen, an den Vorschlägen zu arbeiten, und wir hatten mehrere Diskussionen im Europäischen Rat. Wir haben uns mit Sicherheit nicht festgefahren. Alle Mitgliedstaaten erkennen das Paket als gute Basis für Verhandlungen an. Aber um ganz ehrlich zu sein: Es sind auch sehr komplizierte und sensible Themen. Wir hatten bisher kein einziges physisches Treffen innerhalb des Rates der Innenminister. Ich glaube nicht, dass es realistisch ist, große politische Verhandlungen zu führen, die einen Mitgliedstaat wirklich zu einer neuen Position bewegen könnten, wenn man sich nur per Videokonferenz trifft. Aber es ist auch nicht wie im Jahr 2016!

Seit dem Jahr streitet Europa über die Verteilung von Geflüchteten innerhalb des Staatenbundes. Was macht Sie so hoffnungsvoll, dass es diesmal eine Lösung in der europäischen Flüchtlingspolitik geben wird?

Zwei Dinge. Erstens höre ich, was die Minister der Mitgliedstaaten sagen. Auch wenn sie nicht zu 100 Prozent zufrieden sind, finden sie, dass der Vorschlag eine gute Grundlage für Diskussionen ist. Sie würden gerne einige Änderungen vornehmen, aber sie erkennen das Paket als ausgewogen an. Das ist also gut. Niemand hat es bisher prinzipiell abgelehnt und gesagt, das sei der falsche Weg. Und zweitens: Sie kennen diesen Ausdruck, dass der Teufel im Detail steckt, das ist klar. Aber es ist auch so, dass die Möglichkeiten in den Details stecken.

Aber ist nicht das Hauptdilemma in der Flüchtlingspolitik, dass die Mitgliedstaaten jegliche Verantwortung auf die EU abwälzen und Brüssel ihrerseits die Verantwortung in Richtung der EU-Länder schiebt? Die Diskussionen laufen schon seit Jahren, ohne dass es eine Lösung gibt. Wie wollen Sie diesen ewigen Kreislauf beenden?

Wir haben jetzt einen Vorschlag auf dem Tisch und dieser Vorschlag wurde von den Mitgliedstaaten begrüßt. Die Länder schätzen auch, dass mein Ansatz darin bestand, einen Dialog zu führen und ihnen im Vorfeld zuzuhören, bevor ich den Vorschlag präsentierte. Aber jetzt müssen wir zu den tatsächlichen Verhandlungen kommen. Dafür sind meiner Meinung nach physische Treffen unabdingbar.

"Es ist nicht so, dass die Mitgliedstaaten keine Solidarität zeigen. Aber es ist nicht genug"

Wenn ich auf die Diskussionen nach dem Brand des griechischen Flüchtlingscamps Moria im vergangenen September zurückblicke: Damals wollte kein Land das erste sein, das Menschen von dort aufnimmt. Wie wollen Sie dieses Verhalten beenden?

Wenn es um Griechenland geht, haben wir im Moment etwa elf Mitgliedstaaten, die Menschen von dort aufnehmen. Fast jede Woche siedeln wir Leute um. Es funktioniert also auch ohne Regulierung. Es ist nicht so, dass die Mitgliedstaaten hier keine Solidarität zeigen. Aber es ist nicht genug, deshalb brauchen wir das Migrations- und Asylpaket.

Die deutsche Regierung sagte letzten Herbst zu, dass Deutschland 1.553 Geflüchtete aus Moria aufnimmt. Doch nach den neuesten offiziellen Zahlen kamen bis Mitte Januar nur 291 Menschen an. Nach vier Monaten also nur einer von fünf Menschen. Das ist doch ziemlich langsam, oder?

Nein, so langsam ist es nicht. Es wurden bereits rund 2.500 Menschen aus Moria in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt. Natürlich, durch die Pandemie verlangsamt sich das ein bisschen. Aber es geht weiter. Es funktioniert, aber es ist eben nicht genug. Deshalb brauchen wir das Paket. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass wir andere Dinge getan haben, um auf den griechischen Inseln zu helfen. Als ich am 1. Dezember 2019 mein Amt antrat, hatten wir 42.000 Migranten auf den griechischen Inseln. Dort herrschten völlig inakzeptable Lebensbedingungen. Jetzt haben wir etwa 16.000 – immer noch zu viele und wir haben immer noch keine ordentlichen Einrichtungen. Es gibt noch viele Herausforderungen, aber es wird immer besser.

"Pushbacks sind ein Verstoß gegen europäisches Recht, die Genfer Konvention und unsere Werte"

Es gab Berichte, dass Frontex an illegalen Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze beteiligt war. Führt das harte Grenzregime nicht auch zu weniger Migranten?

Ich bin sehr besorgt über die Berichte von Pushbacks. Wir hatten auch kürzlich einen Bericht des UNHCR dazu [Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.]. Das Migrations- und Asylpaket verteidigt das Recht, Asyl zu beantragen. Die Menschen müssen Zugang zu Verfahren haben. Wenn dann die Entscheidung lautet, dass sie kein Recht auf Asyl bekommen und keinen internationalen Schutz benötigen, sollten sie zurückgeschickt werden. Aber noch einmal: Die Menschen müssen Zugang zu Verfahren haben! Das ist wirklich eine fundamentale Sache und ein Grundrecht, ein Teil unserer Gesetzgebung und ein Teil unserer europäischen Werte. Es ist inakzeptabel, wenn Pushbacks stattfinden. Das muss geklärt werden. Es ist besorgniserregend, dass es so lange dauert, bis die Frontex-Leitung diese Frage beantwortet und geklärt hat.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die europäische Idee und gemeinsame Werte wie Solidarität, Verantwortlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verloren gegangen sind?

Pushbacks sind ein Verstoß gegen europäisches Recht, die Genfer Flüchtlingskonvention und unsere eigenen Werte. Es ist ganz klar, dass Menschen das Recht haben, Asyl zu beantragen. Sie haben das Recht, Zugang zu einem fairen Verfahren zu haben. Nicht jeder hat das Recht, hier zu bleiben, aber jeder hat das Recht, Zugang zu einem Verfahren zu haben. Das ist Teil unserer Gesetzgebung. Pushbacks sind also per Definition ein Verstoß gegen unsere Gesetzgebung und unsere Werte.

Werden die Berichte zu Veränderungen bei Frontex und anderen EU-Institutionen führen?

Ich habe in meinem Paket bereits eine neue Gesetzgebung vorgestellt. Ich werde es für die Mitgliedsstaaten verpflichtend machen, einen unabhängigen Überwachungsmechanismus zu installieren, um sicherzustellen, dass die Menschen an unseren Grenzen rechtmäßigen Zugang zu Asylverfahren haben. Ich habe auch einen Vorschlag für eine Gesetzgebung vorgelegt, die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Vorwürfen von Pushbacks nachzugehen. Ich hoffe also, dass dieser Vorschlag angenommen wird.

Und Frontex?

Was Frontex betrifft, so hoffe ich, dass sie klarstellen können, dass sie sich nicht an Pushbacks beteiligt haben. Es ist wichtig, dass der Direktor so schnell wie möglich alle Mängel anspricht. Wir brauchen wirklich eine robuste und gut funktionierende Grenzschutzagentur. Laut der Verordnung, die im Dezember 2019 in Kraft getreten ist, sollte es drei stellvertretende Direktoren geben. Derzeit gibt es keinen. Es sollte einen Grundrechtsbeauftragten geben, es gibt aber nur einen temporären. Und es sollte drei Grundrechtsbeobachter geben, wobei es aktuell ebenfalls keinen einzigen gibt. Es gibt also verschiedene Dinge, die angegangen werden müssen, um die effektive Agentur zu schaffen, die wir wirklich brauchen.

Was ist ihre Forderung, wenn Frontex an Pushbacks teilgenommen hat?

Hoffen wir, dass sie es nicht getan haben.

Aber wenn es bewiesen ist?

Der Prozess ist im Gange und der Vorstand prüft es. Warten wir also das Ergebnis ab.

Zur Person: Seit 1. Dezember 2019 ist Ylva Johansson Kommissarin für Inneres in der Kommission von Ursula von der Leyen und dort unter anderem für Flüchtlingspolitik zuständig. Seit März 2020 ist sie zudem Teil der Corona-Taskforce der Europäischen Union. Die sozialdemokratische schwedische Politikerin war in ihrem Heimatland Schul-, Wohlfahrts- sowie zuletzt Arbeitsministerin.
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