Trotz harter Repressionen im Inland bleibt der Westen gegenüber der Türkei erstaunlich still. Beobachter sehen darin ein Kalkül Erdogans, der seine geopolitische Schlüsselrolle geschickt nutzt.

Mehr aktuelle News

Der Westen braucht die Türkei - für die Verteidigung der Ukraine und zur Stabilisierung Syriens. Diese starke geopolitische Position nutzt der türkische Präsident politischen Beobachtern zufolge aus, um sich seine Macht zu Hause zu sichern. Recep Tayyip Erdogan ließ vor einer Woche seinen größten politischen Rivalen ins Gefängnis stecken und geht seither brutal gegen Demonstranten vor - ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen.

"Erdogan hat den geopolitischen Moment ziemlich gut erkannt", sagt Asli Aydintasbas von der US-Denkfabrik Brookings Institution. "Die US-Regierung hat wenig Interesse an einer wertebasierten Außenpolitik, und die Europäer brauchen die Türkei, um Syrien zu stabilisieren und nach dem Krieg in der Ukraine eine nachhaltige europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Das ist nicht der Zeitpunkt, um sich mit Erdogan anzulegen."

Verurteilen ja, Sanktionen nein

Deutschland und Frankreich verurteilten zwar die Verhaftung von Erdogans Herausforderer, dem inzwischen abgesetzten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Sanktionen drohten sie jedoch nicht an. Die anderen europäischen Außenministerien halten sich zurück, ebenso die USA. US-Außenminister Marco Rubio äußerte sich am Dienstag bei einem Treffen mit seinem türkischen Kollegen Hakan Fidan lediglich "besorgt" über die Festnahmen bei den Massenprotesten.

Der populäre Oppositionspolitiker Imamoglu war seit 2019 Bürgermeister der Wirtschaftsmetropole und will bei der Wahl 2028 für das Präsidentenamt kandidieren. Seit Tagen gehen die Menschen in der Türkei massenhaft für Imamoglu auf die Straße, obwohl Versammlungen verboten wurden. Die Polizei geht mit Pfefferspray, Wasserwerfern und Gummigeschossen brutal gegen die Demonstranten vor. Mehr als 1400 Menschen wurden in den vergangenen Tagen festgenommen.

Rückkehr Erdogans auf die internationale Bühne?

Erdogan haben den "perfekten Zeitpunkt" für die Verhaftung seines Hauptkonkurrenten und das harte Durchgreifen gegen die anschließenden Proteste gewählt, sagt auch Marc Pierini vom Thinktank Carnegie Europe. Großbritannien und Frankreich bemühen sich gerade, eine "Koalition der Willigen" zur Unterstützung der Ukraine mit Waffen und möglicherweise auch Truppen zu bilden. Die Türkei mit ihrem großen Militär, ihrer Drohnenproduktion und ihren guten Beziehungen sowohl zu Kiew als auch zu Moskau ist dabei ein wichtiger Partner.

"Dies ist möglicherweise Erdogans Rückkehr auf die internationale Bühne, wo er dank der soliden und flexiblen Verteidigungsindustrie der Türkei eine große Rolle spielt", analysiert der Experte Pierini, der früher EU-Botschafter in Ankara war. "In diesem Zusammenhang verlässt sich Erdogan auf das Schweigen Westeuropas zum Thema Rechtsstaatlichkeit und hat dies bisher auch erreicht."

Europa braucht die Türkei in der Ukraine und Syrien

Die Türkei wird auch an dem Gipfeltreffen zur Ukraine am Donnerstag in Paris teilnehmen. Doch Europa braucht die Türkei nicht nur für die Unterstützung Kiews gegen Moskau. Nach dem Sturz des syrischen Langzeit-Machthabers Baschar al-Assad ist Ankara auch der wichtigste Akteur in Syrien. Die Türkei hat maßgeblich zum Sieg der syrischen Rebellenkoalition beigetragen und ist noch immer unverzichtbar für die Stabilität des Landes. Sie kann mit ihrer Marine außerdem ihren Einfluss im Mittelmeer geltend machen. Und sie profitiert von den Schwierigkeiten der Nato angesichts der unter Präsident Donald Trump unberechenbaren US-Diplomatie.

"Die Türkei ist sich dessen bewusst, dass sie aufgrund der neuen Sicherheitsbedrohungen und im Kontext der polarisierenden Präsidentschaft Trumps ein sehr wichtiges Mitglied der Nato geworden ist", sagt die Türkei-Expertin Dorothée Schmid vom französischen Institut für internationale Beziehungen. Während sich die Situation im Inland zuspitzt, "sieht Erdogan, dass es praktisch keine internationale Reaktion gegeben hat". "Die Europäer haben meiner Meinung nach keinen Einfluss auf die Innenpolitik der Türkei", urteilt Schmid.

"Dies ist ein Moment in der Geschichte, in dem demokratische Werte leicht von den harten geopolitischen Realitäten zunichte gemacht werden können", bedauert Politologin Aydintasbas. "Leider wird die Türkei weder das erste noch das letzte Land sein, dem es so ergeht." (afp/bearbeitet von skr)

Teaserbild: © picture alliance/ZUMAPRESS.com/Ukraine Presidency/Ukrainian Pre