Am Mittwoch endete der von der Regierung ausgerufene Ausnahmezustand in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Jahr 2016 wurden dadurch Grundrechte eingeschränkt und den Regionalgouverneuren übergeordnete Kompetenzen übertragen. Doch nun fürchten Kritiker, dass die Regierung um Präsident Erdogan mit einem neuen Anti-Terror-Gesetz die Repressionen weiterhin aufrechterhalten könnten.
Partys gibt es nicht in der Nacht. Als um ein Uhr morgens Ortszeit der Ausnahmezustand ausläuft, ist es grabesstill im Land. Die Türkei verschläft die ersten Stunden ohne den "Olaganüstü Hal" (OHAL), den "außerordentlichen Zustand", der das Leben von vielen Zehntausend Türken schwer gezeichnet hatte. Viele Türken hatten schon vor dem Stichtag geglaubt, dass das Leben im "Normalzustand" sowieso keine Änderung bringt. Seit Tagen machen in sozialen Medien Wortspiele die Runde wie: "OHAL geht, aber O HAL kommt" - "Der Notstand geht, aber "dieser Zustand" kommt."
Kampf gegen Terror als Normalzustand
Mit diesem Zustand meinen sie die Unterordnung ihres Alltags unter den Primat der Sicherheit. Zwei Jahre sind vergangen nach dem Putschversuch von 2016 - der "Kampf gegen den Terror" bleibt der blutrote Faden der türkischen Politik.
Viel Zeit, sich an die neue Freiheit zu gewöhnen, bleibt tatsächlich nicht. Zehn Stunden nach dem Ende des Ausnahmezustands trifft sich am Donnerstagmorgen schon die Justizkommission des Parlaments in Ankara, um einen neuen Gesetzesentwurf zu besprechen, der helfen soll, "den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterzuführen". Er scheint Regeln, die im Ausnahmezustand galten, auch für die Zukunft festschreiben zu wollen. Eine würde die Versammlungsfreiheit beschneiden, eine weitere Teile der Machtfülle der Gouverneure aus der Zeit des Notstands permanent machen, eine andere scheint mehr Entlassungen aus dem Staatsdienst vorzubereiten. Das Gesetz werde den Ausnahmezustand um Jahre verlängern, merkt der Sprecher der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP am Donnerstag bitter an.
Erdogan geht gestärkt aus Wahlen
Aber die Stimmung im Land liegt irgendwo zwischen Apathie und Desinteresse. Mitglieder der Regierungspartei AKP sagen, 70 Prozent der Türken hätten den Ausnahmezustand begrüßt und gewollt. Die Anti-Terror-Agenda von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat wohl wirklich bei vielen Menschen Anklang gefunden - sie hatten ihn auch deswegen bei den Wahlen am 24. Juni mit 52,6 Prozent Zustimmung als Präsident wiedergewählt.
Feldzug gegen Gülen-Bewegung
Aber Regierungen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass Erdogan den Ausnahmezustand auch dazu genutzt habe, seine Macht auszubauen und kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Can Dündar, der in Deutschland exilierte Ex-Chef der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", twittert von einem "Imperium der Angst". Terminüberblicke kündigen am Donnerstag neue Prozesse gegen "Terroristen" der Gülen-Bewegung in den Städten Ankara, Istanbul, Izmir, Sakarya and Bolu an. Staatspräsident Erdogan hatte die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich gemacht. Der Notstand bleibt Normalzustand.
Kritik aus dem Westen
Die Welt reagiert um einiges emotionaler als die Türkei. Die EU-Mission verschickt am Donnerstagmittag eine scharfe Mahnung. Man begrüße das Auslaufen des Ausnahmezustands. Zugleich würden "positive Effekte gedämpft" durch das geplante Anti-Terror-Gesetz, das "zahlreiche restriktive Elemente aus dem Ausnahmezustand" beibehalten würde. Der deutsche Außenminister Heiko Maas schlägt in dieselbe Kerbe: Es dürfe keine Verlängerung des Ausnahmezustands durch die Hintertür geben, sagt er.
Türkische Regierung unbeeindruckt
Ob das die türkische Führung beeindruckt, ist fraglich. Mustafa Yeneroglu, Abgeordneter von Erdogans Regierungspartei AKP, sagt am Donnerstag, es sei für die Türkei eine "nachrangige Frage", ob sie für das neue Gesetz Kritik einstecke oder nicht. "Wenn in Deutschland jede Woche ein Mensch in einem Terroranschlag sterben würde, dann gebe es auch in Deutschland eine andere Gesetzgebung", sagte er. "Stellen Sie sich vor, jeder Minister müsste einmal die Woche an der Begräbniszeremonie eines Terroropfers teilnehmen." Da müsse man sich mal hineinversetzen.
Aber der Graben zwischen der Türkei und Europa ist breit geworden über zwei Jahre Ausnahmezustand. Vielleicht zu breit, um sich noch leicht ineinander hineinzuversetzen. Die Aufhebung des Ausnahmezustands scheint daran erst einmal nicht viel zu verändern. (mc/dpa)
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