Die Amtszeit von Außenministerin Annalena Baerbock geht zu Ende. Im Interview spricht sie über die Beziehungen zu den USA, einen möglichen Frieden in der Ukraine – und ihre eigenen Erfolge und Fehler.

Ein Interview

Wenn in den nächsten Wochen eine neue Bundesregierung die Geschäfte übernimmt, wird Annalena Baerbock das Amt als Bundesaußenministerin abgeben. Die Grünen-Politikerin blickt zwar nicht auf eine besonders lange Amtszeit zurück – aber auf drei vollgepackte, atemlose Jahre. Mit Kriegen in der Ukraine und Gaza, mit Konflikten auf der ganzen Welt und einer zunehmend aufgeheizten Stimmung auch in Deutschland.

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Am Rande des Treffens der G7-Außenminister in Kanada zieht Baerbock im Gespräch mit unserer Redaktion Bilanz und sagt: Sie gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Frau Baerbock, es gab zuletzt viele Abgesänge auf das westliche Bündnis. Gibt es den Westen noch?

Annalena Baerbock: Wenn die Welt sich verändert, kommt man mit Antworten der Vergangenheit nur bedingt weiter. Wir haben gesehen, dass weder eine Corona-Pandemie noch Klimawandel oder Desinformation an nationalen Grenzen haltmachen. Daher braucht es nicht nur in diesen stürmischen Zeiten Partner, die breiter sind als der vermeintliche "Westen".

Was meinen Sie damit?

Es gibt eine Gleichzeitigkeit. Demokratien werden von Autokratien herausgefordert. Neue regionale Mächte entstehen. Und zugleich greift eine Ruchlosigkeit um sich – von Staaten, aber auch Akteuren innerhalb demokratischer Gesellschaften, die an das Recht des Stärkeren glauben und auf teils brutale Art versuchen, das Maximale für sich herauszuholen. Mir ist es daher wichtig, Bündnisse über Kontinente hinweg zu schmieden, die für die internationalen Regeln gemeinsam einstehen.

Wo ordnen Sie da die USA ein?

Die Strahlkraft der ältesten modernen Demokratie der Welt gründete nie nur auf ihrer großen wirtschaftlichen und militärischen Stärke – sondern auch auf dem Traum von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Die US-Regierung sollte eigentlich kein Interesse haben, an dieser Strahlkraft zu rütteln.

Können wir noch darauf vertrauen, dass die USA den europäischen Staaten zur Hilfe kommen, wenn wir angegriffen werden? So sieht es Artikel 5 des Nato-Pakts ja vor.

Die Nato ist genau für diesen Zweck gegründet worden: Dass sich unsere Gesellschaften nicht aus Furcht vor Krieg lähmen, sondern sich frei und in Wohlstand entfalten. Für Europa ist das in diesen Zeiten wichtiger denn je.

Aber kann man das Beistandsversprechen der Nato noch ernst nehmen?

Natürlich, das gilt. Das Beistandsversprechen ist der Kerngedanke dieser Verteidigungsallianz. Einer für alle und alle für einen. Um unseren Frieden zu schützen.

Europäische Politiker betonen immer wieder: Europa muss eigenständiger werden und mehr für die eigene Sicherheit unternehmen. Gleichzeitig klammern sie sich an die USA. Es heißt zum Beispiel, einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine kann Europa nicht alleine sichern, sondern nur mit den USA. Was denn nun?

Das ist kein Widerspruch. Für Frieden brauchen wir starke Partner und Freunde. Das gilt für jedes Land auf der Welt, und das verbindet uns über Tausende Kilometer. Ich bin aber auch überzeugt: Nur wenn man selbst stark und selbstbewusst ist und für seine eigenen Interessen eintritt, bekommt man auch die Unterstützung von anderen. Man gewinnt mehr Partner, wenn man selbst zeigt, dass man alles für die eigene Freiheit und den Frieden gibt.

Was bedeutet das für die Ukraine? Kann Europa einen Frieden dort eines Tages wirklich nicht alleine sichern?

Wirklichen Frieden wird es nur mit europäischen Sicherheitsgarantien geben. Diese Garantien sind aber umso stärker, je mehr Länder mitmachen. Die USA sind als größte Militärmacht der Welt die beste Rückversicherung für Frieden in Europa. Deswegen brauchen wir die Amerikaner. Genauso klar sagen wir aber auch: Die Amerikaner brauchen auf mittlere und lange Sicht auch uns Europäer – weil auch sie nicht alleine in der Welt bestehen können. Erst recht, wo sich Akteure wie China, Russland, Iran und Nordkorea zusammentun.

Sie waren gerade auf dem Treffen der Außenministerinnen und Außenminister der sieben größten Industriestaaten. Wenn sich die Welt inzwischen anders aufteilt: Wozu braucht es die G7 noch?

Vor 50 Jahren wurde die Gruppe als Reaktion auf die Ölkrise gegründet. Die stärksten Wirtschaftsmächte wollten damals vor allem ihren Wohlstand sichern. Ihnen wurde vorgeworfen, nur ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Das hat sich geändert. Die G7, also die wirtschaftlich stärksten Demokratien, haben eine globale Verantwortung. Neben den Europäern und den USA sitzt mit Japan auch Asien mit am Tisch. In Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und damit auf die regelbasierte internationale Ordnung haben wir die G7 unter deutscher Präsidentschaft zu einem Krisenreaktionszentrum ausgebaut. Sie sind – das zeigte auch das Treffen hier in Kanada – wichtiger Arbeitsmuskel für den Frieden in der Ukraine.

Kann man wirklich noch von einer Gemeinschaft sprechen? Die Trump-Regierung erhebt Ansprüche auf fremde Territorien, überzieht die Welt mit Zöllen und gibt der Ukraine eine Mitschuld am russischen Angriffskrieg.

Die G7 sind eine so starke Gemeinschaft, dass wir trotz unserer mal kleineren oder derzeit auch größeren Unterschiede für geopolitische Großherausforderungen immer wieder gemeinsame Lösungen finden. Mit unserem hiesigen Treffen haben wir gezeigt, dass wir als G7 Verantwortung übernehmen, gerade auch für die Ukraine. Unsere klare Botschaft als G7-Außenminister, also auch meines amerikanischen Kollegen Marco Rubio, ist: Wir stehen felsenfest hinter der Ukraine und ihrer territorialen Integrität.

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In Deutschland wird gerade über eine neue Regierung verhandelt, der Ihre Partei wohl nicht mehr angehören wird. Ihre Amtszeit geht also bald zu Ende. Wie ist das für Sie?

Ich habe ein lachendes und ein weinendes Auge. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich unser schönes Land in der Welt vertreten durfte. Aber ich hätte diese Aufgabe auch gerne weitergemacht.

Was war die wichtigste Lektion, die Sie gelernt haben?

Dass Vertrauen in Krisenzeiten die wichtigste Währung auf der Welt ist. Vertrauen, das ist harte Arbeit. Indem man viel zuhört, die Sorgen der anderen nicht nur ernst nimmt, sondern immer wieder bereit ist, sich in ihre Schuhe zu stellen. Gerade, wenn man die Dinge komplett anders sieht. Eine meiner dafür wichtigsten Entscheidungen war, die Klimaaußenpolitik ins Auswärtige Amt zu holen: Für die meisten Länder auf der Welt ist nämlich die größte Krise mittlerweile die Klimakrise. Sie führt nicht nur zu Hunger und Flucht, sondern verschärft auch bestehende Konflikte – deshalb ist zum Beispiel auch deutsche Hilfe in der Dürresituation in Äthiopien oder im Sahel Sicherheitspolitik.

Was sehen Sie als Ihren größten Erfolg?

Eine Krise, die gar nicht erst ausbricht. Und davon gab es einige. Das Manko dabei: Verhinderte Krisen bekommt kaum einer mit. Dass Putins Kriegsziel, auch die kleine Republik Moldau unter seine Fittiche zu bekommen, nicht eintrat, sondern das Land mittlerweile EU-Beitrittskandidat ist, gelang gerade auch, weil wir damals als Bundesregierung mit Frankreich und Rumänien so entschieden reagiert haben. Ein wichtiger Durchbruch für den dieser Tage finalisierten Friedensschluss zwischen Armenien und Aserbaidschan konnte in Berlin erzielt werden. Und der Ansatz unserer Nationalen Sicherheitsstrategie, die innere und äußere Sicherheit endlich zusammen denkt, findet sich auch in der gerade gefundenen Einigung zur Grundgesetzänderung für mehr Sicherheit wieder. Neben all diesen Krisen und Konflikten sind wir als Auswärtiges Amt endlich die seit Jahren verschleppte Visa-Modernisierung und -Digitalisierung konsequent angegangen. Das ist zentral für ein modernes Einwanderungsland, dessen Wirtschaft pro Jahr über 400.000 Fachkräfte braucht.

"Wir können nicht nur öffentlich über Waffensysteme sprechen, sondern müssen jeden Tag deutlich machen: Es geht um unseren Frieden in Europa."

Annalena Baerbock

Und was war Ihr größter Fehler?

Zu Beginn des russischen Angriffskrieges unterschätzt zu haben, wie viele Kräfte es in Deutschland gibt, die die russische Propaganda weitertragen und wie stark diese verfangen hat.

Hat die deutsche Politik das nicht erleichtert? Donald Trump nimmt jetzt für sich in Anspruch, den Frieden in die Ukraine zu bringen – während die europäischen Staaten lange vor allem über weitere Waffen geredet haben.

Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es in freien liberalen Demokratien einen so großen Resonanzraum für eine derartige Täter-Opfer-Umkehr gibt. Weil es doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass wir einen auf brutalste Art angegriffenen, europäischen Nachbarn dabei unterstützen, sich zu verteidigen. In diesen Zeiten darf man die Deutungshoheit aber auch beim vermeintlich Offensichtlichen nicht unterschätzen. Deswegen ja, können wir nicht nur öffentlich über Waffensysteme sprechen, sondern müssen jeden Tag deutlich machen: Es geht um unseren Frieden in Europa.

Über die Gesprächspartnerin

  • Annalena Baerbock wurde 1980 in Hannover geboren. Sie studierte Politikwissenschaft und Völkerrecht, wurde 2005 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen war von 2018 bis 2022 zusammen mit Robert Habeck deren Vorsitzende.
  • 2021 war Baerbock die erste Kanzlerkandidatin der Grünen bei der Bundestagswahl, danach wurde sie Bundesaußenministerin.