Rund 550 "Gefährder", die jederzeit zu Anschlägen bereit sein könnten, werden von den Sicherheitsbehörden erfasst - aber nicht alle stehen unter Beobachtung. Auch der mutmaßliche Attentäter des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, war zwischenzeitlich im Visier der Behörden. Doch dann verschwand er wieder aus dem Sichtfeld.

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Der islamistische Terror scheint nach dem Anschlag in Berlin endgültig in Deutschland angekommen zu sein. Laut Bundesinnenministerium werden aktuell 549 Menschen als sogenannte "Gefährder" eingeordnet - mit steigender Tendenz. Diesem Personenkreis wird es grundsätzlich zugetraut, einen Terrorakt zu verüben.

Auch der in Mailand getötete Anis Amri galt als Gefährder. Der Tunesier wird verdächtigt, einen Lkw auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gesteuert zu haben. 12 Menschen starben.

Nach dem Anschlag steht die Frage im Raum, ob die Sicherheitsbehörden überhaupt alle potenziellen Terroristen auf dem Schirm haben. Sind die Ermittler noch Herr der Lage? Und wo befinden sich die Brennpunkte der islamistischen Szene in Deutschland?

Experte: "Nicht so viele Rund-um-die Uhr-Beobachtungen"

"Es werden nicht alle Gefährder beobachtet. Wir haben gar nicht so viele Rund-um-die-Uhr-Beobachtungen", sagt Oliver Malchow, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Der Grund: Die Hürde für den intensivsten Grad der Beobachtung, die Observation, sei schwer zu nehmen. Dafür sei ein richterlicher Beschluss nötig.

Zudem werden für die Rund-um-die Uhr-Observation einer Person 24 Polizeibeamte benötigt. Wie viele Personen genau permanent beobachtet würden, ließ der GdP-Vorsitzende offen. Es sei aber nur eine Minderheit der potenziellen Terroristen.

Außer den Gefährdern haben die Sicherheitsbehörden rund 370 sogenannte "relevante Personen" auf dem Schirm. Dieser Kreis bewegt sich im Umfeld der Gefährder und soll bereit sein, bei der Vorbereitung oder Umsetzung von Terroranschlägen zu helfen.

Wie der Fall Amri zeigt bietet die Beobachtung durch Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter und den Verfassungsschutz keine 100-prozentige Sicherheit.

Der 24-Jährige saß zwischenzeitlich in Abschiebehaft, musste wegen mangelnder Zusammenarbeit mit der tunesischen Regierung wieder entlassen werden. Danach wurde er über viele Wochen observiert.

Weil sich jedoch keine stichhaltigen Belege für schwerkriminelle Umtriebe finden ließen, wurde die Intensiv-Beobachtung beendet, heißt es aus Berliner Justizkreisen.

Anis Amri, der über mindestens acht verschiedene Identitäten verfügte, verschwand vom Radar der Ermittler.

Erkenntnisse laufen im Terrorabwehrzentrum zusammen

Welche Maßnahmen gibt es außer einer Observation?

Verdächtige können durch das Abhören der Telekommunikation oder anhand ihres Verhaltens in den sozialen Netzwerken beobachtet werden. Auch V-Männer des Verfassungsschutzes liefern wichtige Informationen. Welche Behörde zuständig ist, hängt vom Wohnort des Betroffenen ab.

"Die Informationen über die Gefährder und die Analyse, wie gefährlich jemand ist, wird im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) zusammengetragen", erklärt GdP-Chef Malchow. "Damit alle anderen Polizeien der Länder und des Bundes auch diese Informationen haben und sie weiterverarbeiten können."
Im GTAZ tauschen Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz Bundesnachrichtendienst, Zollkriminalamt, Militärischer Abschirmdienst, die 16 Landeskriminalämter und Landesämter für Verfassungsschutz sowie Bundespolizei, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Generalbundesanwaltschaft ihr Fachwissen aus.

Aufgrund der gesammelten Erkenntnisse gebe es die Feststellung, "wer weiter oben oder weiter unten auf der Liste ist und welche Maßnahmen nötig sind", erklärt Malchow.

Nach der Gefährdungsanalyse werden gegebenenfalls polizeiliche Maßnahmen durchgeführt. Bei weniger gefährlichen Personen ist die Beobachtung weniger intensiv.

Allerdings sei der Begriff Gefährder nicht deutlich definiert. "Es gibt eine Auswertung von Verhaltensweisen und Erkenntnissen über Personen, die dann zu einer Bewertung bei der Polizei führt, ob die Person dieses oder jenes vorhaben könnte", sagt Malchow.

7.500 Salafisten in Deutschland

Lokale Hochburgen des Salafismus, einer radikalen Islaminterpretation, finden sich praktisch über die gesamte Republik verteilt.

Bis auf Berlin ist die Szene in Ostdeutschland allerdings weitaus weniger vernetzt.

Im Norden sind Hamburg und Bremen besonders betroffen, in Niedersachen Wolfsburg, Hannover, Hildesheim und die Region Braunschweig.

In Nordrhein-Westfalen gelten unter anderem Dinslaken und Bonn als Brennpunkte der Szene. Laut Verfassungsschutz sind in NRW allein 2.100 der 7.500 Salafisten gemeldet.
In Berlin beobachtet der Verfassungsschutz derzeit rund 620 Salafisten. Von den deutschlandweit rund 720 Unterstützern der Terrormiliz "Islamischer Staat", die nach Syrien ausgereist sind, sollen knapp 100 aus der Hauptstadt kommen.

In den übrigen westlichen Bundesländern sind ebenfalls lokale Netzwerke aktiv. Ein Muster ist nicht zu erkennen: Sowohl Großstädte als auch der ländliche Raum sind betroffen. Darüber hinaus werden rund 90 Moscheen bundesweit überwacht. Terror-Experte Professor Peter Neumann sagte in diesem Zusammenhang der "Bild"-Zeitung: "Die Terror-Gefahr ist so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr."

Das spiegelt sich auch im Anstieg der Gefährderzahlen wieder. Mitte November ging das Bundeskriminalamt (BKA) von 530 Personen aus. Im Jahr 2010 - vor Beginn des Syrienkrieges und vor der Gründung des IS - waren es 120.

Doch nicht alle Gefährder halten sich in Deutschland auf, viele sind nach Syrien oder in andere Länder ausgereist.

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