Taktisches Täuschungsmanöver oder ernstgemeintes Zeichen der Deeskalation? Bundeskanzlerin Angela Merkel verlangt von Russlands Präsident Wladimir Putin, den Waffenstillstand in der Ukraine einzuhalten. Dieser hatte zuvor angekündigt, seine Truppen aus der Grenzregion im Osten abzuziehen. Lenkt der russische Staatschef jetzt endgültig ein?

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Angela Merkel ist an diesem Donnerstag zum Asien-Europa-Gipfel (Asem) nach Mailand gereist. Wichtiger Programmpunkt: Ein Krisentreffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie wolle von Russland die vollständige Umsetzung der Waffenstillstandvereinbarung mit der Ukraine verlangen, hatte Merkel zuvor angekündigt. Russland müsse den entscheidenden Beitrag zur Deeskalation leisten.

Zuletzt sah es so aus, als sei Putin tatsächlich bereit, im Konflikt mit dem Nachbarland den Konfrontationskurs zu verlassen: Vor ein paar Tagen hatte er angekündigt, mehr als 17.000 Truppen aus der Grenzregion zur Ukraine abzuziehen. Nicht nur das: Auf dem Asem-Gipfel ist ein Gespräch zwischen Putin und dem ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko geplant und auch im Gasstreit zwischen den beiden Ländern hat sich Russland zu neuen Verhandlungen bereit erklärt.

Hält Wladimir Putin, was er verspricht?

Lenkt Putin jetzt endgültig ein? Ist gar ein Ende des Ukraine-Konflikts in Sicht? Man darf skeptisch bleiben: "Die Auseinandersetzung mit der Ukraine war bislang sehr stark geprägt von bewusster, gesteuerter Falschinformation durch Russland", sagt Sven C. Singhofen, Russland-Experte am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. "Man sollte Putins Worte an seinem Handeln messen und erst einmal abwarten, ob er wirklich tut, was er verspricht."

In Bezug auf den Truppenabzug gebe es derzeit widersprüchliche Informationen. So gebe es Berichte von ukrainischer Seite, dass tatsächlich weniger Leute über die russische Grenze kommen. Andererseits hat es laut Nato bislang keine größeren Truppenbewegungen in der Region gegeben.

Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin falsche Versprechungen macht. Vor internationalen Treffen wie dem Nato-Gipfel Anfang September hat der russische Präsident immer wieder Signale der Entspannung gesendet – sich letztendlich aber nicht an seine Worte gehalten, sondern stattdessen den Konflikt weiter angeheizt. Ein Beispiel war die Entsendung von "Hilfskonvois", die ohne Erlaubnis der Ukraine die Grenze passierten.

Auch die Anfang September vereinbarte Waffenruhe zwischen Russland und der Ukraine wurde immer wieder gebrochen – allerdings von beiden Seiten. Mehr als 300 Menschen sollen seitdem ums Leben gekommen sein. Von Frieden kann in der Ostukraine keine Rede sein.

"Kann Ukraine jederzeit an Rand des Abgrunds bringen"

Doch selbst wenn Putin diesmal tatsächlich die Truppen aus der Region abzieht, würde er die Fäden weiterhin in der Hand behalten. "Ich sehe prinzipiell durchaus die Möglichkeit, dass Putin die Situation erneut eskalieren lässt, sollten die Verhandlungen nicht nach seinen Vorstellungen laufen", sagt Singhofen. "Solange es die Separatisten im Osten des Landes gibt, kann er die Ukraine jederzeit wieder an den Rand des Abgrunds bringen."

Die Befürchtung liegt nahe, dass Putin den Konflikt nicht beenden, sondern lediglich pausieren will. Noch hat der russische Präsident nicht glaubhaft versichern können, die Ukraine künftig als souveränen Staat anzuerkennen, der selbst über seine Zukunft bestimmen kann.

Daher sollten laut Singhofen trotz erneuter Signale der Entspannung die Sanktionen gegen das Land vorerst nicht aufgehoben werden. "Die Sanktionen zu schnell aufzuheben, wäre falsch und gefährlich", sagt der Russland-Experte. "Dann hätte sich das aggressive, militärische Verhalten Russlands gelohnt – ein Verhalten, das das Völkerrecht komplett missachtet."

Dr. Sven C. Singhofen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Russlands Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Beziehungen des Landes zur Nato und EU.
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