Nach den völlig unterschiedlichen Auftritten von Emmanuel Macron und Angela Merkel in Washington, konnte man den Eindruck gewinnen, der französische Präsident würde der Bundeskanzlerin außenpolitisch nun den Rang ablaufen. Doch ist das wirklich so?

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Was ihr internationales Ansehen betrifft, liegt eine schwierige Woche hinter Angela Merkel.

Die deutsche Bundeskanzlerin werde in Europa zum "schwächsten Glied in der Kette", schrieb die "Washington Post" zu ihrem Besuch bei US-Präsident Donald Trump - ausgerechnet jene Zeitung, die Merkel in der Vergangenheit bereits zur "Führerin der freien Welt" erkoren hatte.

Die Kanzlerin sei mit leeren Händen zurückgekehrt, urteile auch das "Handelsblatt" über Merkels USA-Besuch.

Was Bilder und mediale Aufmerksamkeit betreffen, hatte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron deutlich besser abgeschnitten: Drei Tage blieb er in Washington und wurde von Trump umgarnt. Für Merkels Besuch am Freitag mussten drei Stunden reichen.

Ist Macron inzwischen also der Europäer, der außenpolitisch den Ton angibt?

"Im Kreis der EU stechen Macron und Merkel in der Tat als führende Politiker hinaus", sagt Thomas Jäger, Professor für internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. "Aber international sind beide nicht so stark, wie sie erscheinen – sondern eher Scheinriesen", so Jäger im Gespräch mit unserer Redaktion.

Wer von beiden eine größere Rolle spiele, sei nicht pauschal zu beantworten.

Kein großer innenpolitischer Rückhalt

Zwei Bedingungen verleihen laut Jäger politischen Führungspersönlichkeiten Stärke:

Erstens: die Ressourcen des Landes - zum Beispiel der Zustand des Militärs und die wirtschaftliche Situation.

Und zweitens: der innenpolitische Rückhalt.

"Da bekommen wir sowohl bei Merkel als auch bei Macron ein gemischtes Bild", meint Jäger.

Frankreich sei militärisch zwar handlungsfähig, "aber was die Wirtschaft betrifft, muss Macron noch den Beweis antreten, dass seine Reformen auch wirken".

Bei Merkel sei es genau andersherum: Die deutsche Wirtschaft wächst seit Jahren, gleichzeitig gibt der Zustand der Bundeswehr aber ein sehr schlechtes Bild ab.

Bleibt noch die innenpolitische Situation. Dort hätten laut Jäger beide europäischen Staatslenker keinen besonders starken Rückhalt.

Macrons Partei verfügt zwar alleine über eine Mehrheit in der Nationalversammlung. "Sie ist aber immer wieder von internen Spaltungen bedroht." Merkel wiederum müsse auf die verschiedenen Interessen einer wackligen Dreiparteienkoalition achten.

Rivalität statt Zusammenarbeit

Was sowohl Merkels als auch Macrons Besuch bei Trump wirklich bewirkt haben, muss sich erst noch zeigen: Die USA haben der EU eine Galgenfrist eingeräumt und werden nun bis zum 1. Juni entscheiden, ob sie Strafzölle gegen europäische Staaten verhängen.

Und bis zum 12. Mai will Trump bekanntgegeben, ob er wirklich das Atomabkommen mit dem Iran aufkündigt, für das sich Europa so stark macht. Klare Zusagen haben weder Marcon noch Merkel Trump abringen können.

Vielleicht sind beide nur in der Zusammenarbeit stark, wenn sie also gemeinsam für Europa sprechen?

Laut Thomas Jäger ist das nur auf dem Papier die richtige Antwort. "In der Realität vertritt der französische Präsident französische Interessen und die Bundeskanzlerin deutsche Interessen."

Was zum Beispiel die drohenden Strafzölle der USA betrifft, seien die Interessen der beiden Staaten keineswegs völlig deckungsgleich. Jedes Land habe die eigenen Branchen im Blick.

Vielsagend war hier ein Satz von Macron bei der Pressekonferenz mit Trump: Das Handelsverhältnis zwischen den USA und Frankreich sei ausgeglichen, betonte er – nach einer harten gesamteuropäischen Position klang das nicht.

Syrien-Einsatz ohne die Deutschen

Das Gleiche gilt für den Luftschlag der USA, Frankreichs und Großbritanniens gegen Syrien Mitte April.

"Davor hat Macron Merkel ebenso wenig konsultiert, wie Merkel 2015 den damaligen Präsidenten Hollande nicht konsultiert hatte, als sie die Grenzen für Flüchtlinge öffnete", so Jäger.

Dass Deutschland nicht einbezogen wurde, sei nicht nur damit zu erklären, dass hierzulande erst der Bundestag zustimmen müsste.

"Das war auch ein Zeichen von Rivalität", meint Jäger: "Die USA, Frankreich und Großbritannien haben damit gezeigt: Wenn es um die Sicherheit Europas geht, sind nur wir handlungsfähig" - und zwar auch ohne Deutschland.

Emmanuel Macron meldet sich neben den EU-Reformen gegenwärtig zu weiteren Themen zu Wort: Er fordert "grüne Finanzmärkte", um den Klimaschutz voranzubringen, ruft gemeinsam mit der britischen Premierministerin Theresa May zum entschiedenen Kampf gegen Chemiewaffen auf.

Auf Deutschland scheint er nicht mehr zu warten – möglicherweise aus Enttäuschung darüber, dass seine Reformvorschläge für die Europäische Union in Deutschland wenig Gehör gefunden haben.

Deutschlands strategische und politische Scheu werde sowohl Macron als auch Europa schaden, hieß es dazu in der "Washington Post".

Multilateralismus nicht gefragt?

"In der EU gibt es derzeit niemanden, der eine führende Rolle in der Welt spielen könnte", glaubt Politikwissenschaftler Jäger. Die EU selbst sei dazu nicht in der Lage, die Mitgliedsstaaten in zentralen Fragen uneins und mitunter sogar völlig zerstritten.

Emmanuel Macron hat in seiner Rede vor dem US-Kongress in der vergangenen Woche zwar klar für eine enge internationale Zusammenarbeit plädiert, als er seinen Gastgeber warnte: "Die Tür zur Welt zu schließen, wird ihre Entwicklung nicht aufhalten."

Multilateralismus sei derzeit in anderen Teilen der Welt aber nicht gefragt, sagt Thomas Jäger. Nicht nur in den USA unter Trump, sondern bisweilen auch in China herrsche die Ansicht, dass man Multilateralismus nicht brauche, wenn man die eigenen Stärken doch auch direkt ausspielen könnte.

In Europa ist man da freilich anderer Meinung. Bleibt die Frage, ob die Argumente aus Berlin und Paris tatsächlich als effektives Gegengewicht in der Waagschale der Weltpolitik wirken.

Donald Trump könnte darauf in Kürze eine Antwort geben.

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