- Bundeskanzlerin Angela Merkel wirkt zunehmend macht- und kraftlos – sie muss inzwischen sogar ihre eigenen Beschlüsse zurücknehmen.
- Der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld sagt: Merkel fehlt der strategische Weitblick: "In einer solch komplexen Krise muss sie die Lage deuten und erklären. Doch das liefert sie nicht."
Im vergangenen Jahr schien Angela
Und heute? Deutschland hat mit einer dritten Infektionswelle zu kämpfen, kommt beim Impfen nur langsam voran. Die Konferenzen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten produzieren Ergebnisse, die offenbar sogar diejenigen nicht zufriedenstellen, die sie gefasst haben.
In dieser Woche waren Unverständnis und Wut über die Beschlüsse so massiv, dass die Kanzlerin sie sogar wieder zurücknehmen musste. Der Wirbel um die sogenannte Osterruhe wollte einfach nicht abebben.
Der schon jetzt als historisch zu bezeichnenden Satz "Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung" hat der Kanzlerin zwar einerseits Respekt eingebracht: Wer Fehler eingesteht, zeigt Stärke, Führung. Andererseits kann solch ein Satz auch von einer gewissen Macht- und Kraftlosigkeit in den letzten Monaten einer Amtszeit zeugen.
Pragmatische Problemlösungen statt langfristige Pläne
Der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld hat Angela Merkel seit 1990 beobachtet. Dass sie nun – kurz vor dem Ende ihrer Kanzlerschaft – beim Management der Coronakrise an ihre Grenzen stößt, überrascht ihn nicht.
"Merkel hat über die Jahre ein situatives Krisenmanagement betrieben – und zwar mit einer gewissen Meisterschaft", sagt der Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung im Gespräch mit unserer Redaktion. Das bedeutet: Merkel löste auf pragmatische Weise aktuelle Probleme, statt einen langfristigen Plan für die Zukunft zu entwerfen. So ging sie mit der Finanzkrise und auch mit der großen Flüchtlingsbewegung um.
In der Coronakrise ist die Lage aber besonders komplex und schwer vorherzusagen. Pragmatische Problemlösung reicht nach Einschätzung von Weidenfeld nicht mehr. "Merkels Schwäche war immer schon eine strategische Sprachlosigkeit", sagt er. Diese Schwäche sei jetzt nicht mehr zu übersehen. "Sie hätte ihrer Politik eine strategische Perspektive geben müssen. In einer solch komplexen Krise muss sie die Lage deuten und erklären. Doch das liefert sie nicht."
Mittelweg stellt immer weniger Menschen zufrieden
Eine große Mehrheit der Bevölkerung hat die staatlichen Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung lange unterstützt. Inzwischen stellt der Mittelweg, auf den sich Merkel und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einigen können, immer weniger Menschen zufrieden. Einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL zufolge finden 57 Prozent der Deutschen die jüngsten Beschlüsse verwirrend und nicht nachvollziehbar.
Auch innerhalb der CDU fällt die Kritik am Krisenmanagement drastisch aus. "Wenn Ihnen nach einem Jahr Corona nichts anderes einfällt, als stumpf den Lockdown zu verlängern, über die Ostertage sogar zu verschärfen, dann ist das für die Menschen in diesem Land – ich muss es in dieser Deutlichkeit aussprechen – Politikversagen", schrieb der CDU-Bundestagsabgeordnete Albert Weiler in einem offenen Brief an Merkel und die Länderchefs.
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Beobachter hinterfragen die generelle Funktionsweise Deutschlands
Ausländische Beobachter hinterfragen sogar die Funktionsweise des ganzen Landes. Deutschland sei mit seiner mangelnden Digitalisierung von Gesundheitswesen und Schulen schlecht auf Herausforderungen vorbereitet, schrieb vor kurzem Judy Dempsey. Die Strategie-Expertin des Thinktanks Carnegie Europe ist Autorin des Buchs "Das Phänomen Merkel". Die Corona-Krise habe die Schwächen der einst unbezwingbaren Kanzlerin bloßgelegt, so Dempsey. "Vielleicht ist es für Merkel an der Zeit, zurückzutreten und an einen Nachfolger zu übergeben." Das Problem sei aber: Es steht noch gar nicht fest, wer das sein könnte.
Hier sieht auch Werner Weidenfeld einen strategischen Fehler. "Ich hätte der Bundeskanzlerin den Rat gegeben, entweder zwei Jahre früher oder zwei Jahre später zurückzutreten." Der Experte glaubt: Hätte Merkel schon früher an einen Nachfolger übergeben, hätte dieser sich einen Amtsbonus erarbeiten können. Oder aber sie wäre in diesem Jahr noch einmal angetreten – ebenfalls mit einem Amtsbonus. "Das ist jetzt das Defizit der Union: Dass sie nicht mit einer amtierenden Kanzlerin oder einem Kanzler antritt."
14-mal mächtigste Frau der Welt - jetzt bröckelt das Bild
14-mal ist Angela Merkel seit 2006 vom US-Magazin Forbes zur mächtigsten Frau der Welt gekürt worden – auch im Jahr 2020. Die vergangenen Monate haben ein anderes Bild vermittelt. "Die Macht wurde abgeschliffen. Die Macht ist schüchterner, kleiner geworden", sagt Werner Weidenfeld. "Merkel müsste ihre Politik jetzt klar deuten und erklären, um den Menschen Orientierung zu vermitteln."
Klare Worte hat Merkel am Mittwoch gefunden, als sie den umstrittenen Oster-Shutdown zurücknahm. "Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler", sagte die Kanzlerin – und bat die Bevölkerung um Verzeihung.
Aus Weidenfelds Sicht war das ein kluger Schritt, weil er ihr viel Respekt eingebracht habe. Er wisse nicht, dass Konrad Adenauer oder Helmut Kohl in ihren Amtszeiten so deutlich einen Fehler eingestanden hätten, sagt Weidenfeld. "Von einer Spitzenfigur würde man das nicht erwarten. Das wird später in den Geschichtsbüchern nachzulesen sein."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld
- Albert Weiler: Offener Brief an die Bundeskanzlerin, die Ministerpräsidentinnen und die Ministerpräsidenten
- Judy Dempsey’s Strategic Europe: How the Coronavirus Unveiled Merkel’s Germany
- RTL.de: Jeder fünfte Deutsche will Regeln an Ostern nicht einhalten
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